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„Der Markt regelt es nicht von allein“

Gespräch zwischen Prof. Dr. Bettina Kohlrausch und Peer Rosenthal

Peer Rosenthal (links) und Bettina Kohlrausch (rechts)

Noch immer gibt es viele Beschäftigte, die unter schwierigen Bedingungen arbeiten, wenig verdienen und kaum ihre Rechte durchsetzen können. Warum ist das so? Warum profitieren nicht alle Beschäftigten gleichermaßen von den insgesamt guten Entwicklungen am Arbeitsmarkt? Darüber spricht Peer Rosenthal, Hauptgeschäftsführer der Arbeitnehmerkammer, mit Bettina Kohlrausch vom Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institut der Hans-Böckler-Stiftung.

Peer Rosenthal: Die Arbeitgeber klagen über Fachkräftemangel und immer häufiger wird vom Arbeitnehmermarkt gesprochen, auf dem sich die Machtverhältnisse zugunsten der Beschäftigten verschieben. Trotzdem stellen wir das Thema unsichere und prekäre Beschäftigung in den Mittelpunkt unseres Berichts, da immer noch
zu viele Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer davon betroffen sind, gleichzeitig aber die öffentliche und politische Problemwahrnehmung zurückgegangen ist. Was sagt die Wissenschaft? Spielt prekäre Beschäftigung noch eine Rolle, oder wird jetzt automatisch alles gut?

 

„Selbst in Bereichen, in denen Fachkräfte gesucht werden, steigen nicht zwingend die Gehälter.“
- Bettina Kohlrausch

 

Bettina Kohlrausch: Tatsächlich könnte man denken, dass es keine prekäre Beschäftigung mehr gibt und dass sich die Marktmacht komplett zugunsten der Beschäftigten geändert hat. Das stimmt aber nicht. Wir wissen, dass es nach wie vor einen relativ großen Niedriglohnsektor gibt. Außerdem gibt es noch immer viele Aufstocker, also Menschen, die arbeiten, aber trotzdem auf Bürgergeld angewiesen sind. Also, ja – es gibt noch prekäre Beschäftigung.

Peer Rosenthal: Warum ist das so?

Bettina Kohlrausch: Die Frage ist tatsächlich interessant. Die bloße Tatsache, dass Beschäftigte gesucht werden, übersetzt sich nicht automatisch in eine stärkere Marktmacht von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern. Nun könnte man meinen, dass vor allem hochqualifizierte Beschäftigte, die stark nachgefragt sind, ganz individuell für sich gute Bedingungen aushandeln können und sich deshalb nicht der gesamte Arbeitsmarkt positiv entwickelt. Aber das allein ist es nicht, unser Lohnspiegel zeigt: Selbst in Bereichen, in denen Fachkräfte gesucht werden, steigen nicht zwingend die Gehälter. Und das wäre ja ein klassisches Zeichen dafür, dass sich die Arbeitsbedingungen verbessern.

Peer Rosenthal: Aber warum entwickelt es sich in den Branchen und Berufen so unterschiedlich?

Bettina Kohlrausch: Offensichtlich hat es damit zu tun, dass es jemanden braucht, der diese Marktmacht organisiert. Von allein passiert das eben nicht. Wenn wir zum Beispiel auf die Bauindustrie oder die Fleischwirtschaft blicken: In diesen Niedriglohnbereichen arbeiten viele Menschen, die kaum Deutsch sprechen, die sich auch im deutschen Arbeitsleben nicht auskennen. Die bloße Tatsache, dass sie gebraucht werden, versetzt sie also noch nicht in die Lage, gut für sich verhandeln zu können.

Peer Rosenthal: Auch wir machen in unserer Rechtsberatung die Erfahrung, dass vor allem Geflüchtete oder Migrantinnen und Migranten mit schlechten Deutschkenntnissen große Schwierigkeiten haben. Viele versuchen über die Leiharbeit im Arbeitsmarkt Fuß zu fassen, kommen dann aber häufig über Wechsel zwischen kurzfristiger Beschäftigung und Arbeitslosigkeit nicht hinaus, eine nachhaltige Integration in gute Arbeit gelingt nicht. Welche Rolle spielt auch die formale Qualifikation?

Bettina Kohlrausch: Qualifikationen spielen nsicherlich eine große Rolle. Der Arbeitsmarkt im geringqualifizierten Segment ist ganz anders strukturiert, die Menschen sind weniger geschützt. Zugleich bringen gerade Menschen mit Fluchtgeschichte häufig Qualifikationen mit, die aber hier nicht anerkannt werden. Hinzu kommt: Verhandlungsmacht hat auch etwas mit Ressourcen zu tun. Diesen Menschen fehlen dann die sprachlichen Fähigkeiten und auch das Wissen um die rechtlichen Ansprüche. Wer nicht weiß, wie das System Arbeitsmarkt bei uns funktioniert, kann sich auch nicht durchsetzen.

Peer Rosenthal: Bei der Fleischindustrie zum Beispiel leuchten mir diese Mechanismen ein – die Unternehmen rekrutieren ihre Arbeitskräfte ganz bewusst direkt aus dem Ausland. Aber was ist mit der Gastronomie? Das ist ein regionaler Arbeitsmarkt. Die Betriebe beklagen laut den Personalmangel, gleichzeitig sehen wir, dass die Arbeitsbedingungen nicht entsprechend mitziehen.

Bettina Kohlrausch: Wenn wir davon ausgehen, dass der Markt alles allein regelt, dürfte das nicht passieren. Aber ich habe nie an die Regelungsmacht des Marktes geglaubt. Offensichtlich ist ja, dass sich die Arbeitgeber weigern, die Beschäftigten mit besseren Arbeitsbedingungen für sich zu gewinnen. Stattdessen beklagt man
sich und führt noch zusätzlich eine sehr aggressive Debatte um das Bürgergeld. Ich interpretiere das als einen Versuch, den Druck auf den Arbeitsmarkt von unten noch zu erhöhen, indem Menschen schneller auch in prekäre Jobs gezwungen werden sollen. Es ist doch erstaunlich, dass die Regeln des Marktes hier nicht funktionieren – genau dann, wenn es der Markt eigentlich zugunsten der Beschäftigten regeln müsste.

Peer Rosenthal: Welche Institutionen sind es denn, die die Marktmacht organisieren? Ich denke da natürlich sofort an die betriebliche Mitbestimmung und Tarifverträge.

Bettina Kohlrausch: Ja, Mitbestimmung und Tarifverträge sind die Antwort. Denn sobald aus individuellem Handeln kollektives Handeln
wird, lässt sich etwas erreichen. Wir brauchen die Sozialpartnerschaft, um die Marktmacht der Unternehmen einzudämmen und das Ungleichverhältnis auszugleichen. Es wird immer wieder gesagt, dass das deutsche Produktionsmodell – geprägt von einer starken Sozialpartnerschaft – nicht mehr zeitgemäß sei. Hier widerspreche ich deutlich. Und auch etliche Gewerkschaften haben wieder Zuwächse, auch wenn über die Jahre der Anteil der mitbestimmten und tarifgebundenen Betriebe gesunken ist.

Peer Rosenthal: Um die Tarifbindung und Mitbestimmung wieder zu stärken, bedürfte es aus meiner Sicht auch politischer Maßnahmen.

Bettina Kohlrausch: Ja, es ist auch Aufgabe des Staates, aktiv zu werden. Die Vergabe öffentlicher Aufträge sollte konsequent an das Zahlen von Tariflöhnen gekoppelt werden. Zudem sollten Branchentarifverträge leichter für allgemeinverbindlich erklärt werden können, um alle Beschäftigten zu erreichen und zu verhindern, dass die Konkurrenz vor allem über niedrige Löhne ausgetragen wird. Und bei der betrieblichen Mitbestimmung geht es im ersten Schritt darum, die Behinderung von Betriebsratsgründungen stärker zu ahnden. Im zweiten Schritt sollte das Betriebsverfassungsgesetz modernisiert werden, sodass die Rolle der Betriebsräte in der Transformation gestärkt wird. Sie müssen mehr Rechte bekommen in Fragen der betrieblichen Weiterbildung, des Klimaschutzes und hinsichtlich des Einsatzes digitaler Technologien. Mit Tarifvertrag und Betriebsrat ist zwar nicht automatisch alles super, aber es ist wirklich vieles besser.

 

„Denn wer im Betrieb erfährt, dass sich Dinge durch eigenes Handeln verändern lassen, ist auch eher bereit, sich gesellschaftlich einzubringen.“
- Bettina Kohlrausch

 

Peer Rosenthal: Was können Betriebsräte tun, damit die Transformation nicht zulasten der Beschäftigten geht? Denn es stehen ja mit der Digitalisierung und dem klimagerechten Umbau der Wirtschaft viele Veränderungen an.

Bettina Kohlrausch: Es ist ja grundsätzlich die Frage: Was brauchen Beschäftigte, um diese Veränderungen mitgehen zu können – und zwar als Demokraten? Wir haben herausgefunden, dass Menschen, die ihre demokratischen Rechte in ihrer Rolle als Arbeitnehmerin oder Arbeitnehmer wahrnehmen können, auch weniger Angst vor den anstehenden Veränderungen haben. Mit demokratischen Rechten meine ich, dass sie wissen, dass sie sich zusammenschließen können in Gewerkschaften, dass sie tariflich abgesichert sind oder ihr Streikrecht ausüben können. Daneben spielen subjektive Erfahrungen eine Rolle: Werde ich gefragt, kann ich mitbestimmen, kann ich mich im Betrieb engagieren?

Peer Rosenthal: Daraus schlussfolgern wir, dass das Gelingen und die Akzeptanz der Transformation davon abhängen, dass sie sozialpartnerschaftlich gestaltet wird. Und dass darüber auch die demokratische Einstellung und die Beteiligung an politischen Handlungen außerhalb des Betriebs, zum Beispiel die Wahlbeteiligung, positiv beeinflusst wird.

Bettina Kohlrausch: Zentral ist für Menschen die Erfahrung der Teilhabe und der Selbstwirksamkeit. Also das Gefühl dazuzugehören und Einfluss nehmen zu können auf Entscheidungen, die ihr Leben betreffen. Wenn der Betrieb ein Ort ist, an dem das möglich ist, ist auch gesamtgesellschaftlich viel gewonnen. Denn wer im Betrieb erfährt, dass sich Dinge durch eigenes Handeln verändern lassen, ist auch eher bereit, sich gesellschaftlich einzubringen. Dafür sind Tarifverträge und betriebliche Mitbestimmung die Grundlage.

Zur Person AKB003_IconInfo

Bettina Kohlrausch ist Direktorin des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung und Professorin für gesellschaftliche Transformation und Digitalisierung an der Universität Paderborn. Promoviert hat sie an der International Graduate School in Bremen und arbeitete anschließend unter anderem am Soziologischen Forschungsinstitut Göttingen (SOFI).

Peer Rosenthal ist Hauptgeschäftsführer der Arbeitnehmerkammer Bremen. Nach seinem Abschluss als Diplom-Politologe beschäftigte er sich bei der Kammer mit dem Thema Arbeitsmarktpolitik und machte an der Universität Bremen berufsbegleitend seinen Master in Sozialpolitik. Peer Rosenthal hat die Kammer schon mehrfach in (parlamentarischen) Anhörungen auf Bundes- und Landesebene vertreten.