Notsituationen, Aufregungen und Belastungen kennen Beschäftigte im Gesundheitswesen aus ihrem Arbeitsalltag. Dauerhaft hoher, aber auch zeitweise außergewöhnlicher Stress können über die Grenzen der Belastbarkeit hinausgehen. Auch Profis im Gesundheitswesen können dann unter psychischen Folgen leiden und ernsthaft erkranken.
7. November 2023
Text: Kai Huter
Belastende Situationen
Welche Situationen besonders belastend sind, ist von Mensch zu Mensch verschieden. Die Erfahrung zeigt, dass bestimmte Umstände als besonders beanspruchend empfunden werden und zu körperlichen und psychischen Reaktionen führen können:
- unklare Führung, mangelnde Rückendeckung durch Führungskräfte
- Personalmangel und Personalausfälle
- Nicht-Einhaltung von Ruhezeiten, wegfallende Pausen
- häufiges Einspringen aus der Freizeit
- unrealistisch hohe Erwartungen von Patientinnen, Patienten und Angehörigen
- Erfahrungen von körperlicher, psychischer oder sexualisierter Gewalt
- Konfrontation mit einer großen Anzahl von Erkrankten oder Toten
- Verletzung, Erkrankung oder Tod von Kolleginnen oder Kollegen
- Leid, Erkrankung, Verletzung oder Tod von Kindern
- Hohe körperliche Belastung
- Häufige Schichtwechsel, Nachtdienste
Spezielle Belastung: Moralische Verletzung
Der Begriff „Moralische Verletzung“ beschreibt die Anhäufung von Verletzungen berufsethischer Ideale. Diese entstehen, wenn die Rahmenbedingungen am Arbeitsplatz so gestaltet sind (zum Beispiel durch zu wenig Zeit für zu viele Patienten), dass die eigenen professionellen Ansprüche an die Arbeit nicht mehr eingehalten werden können. Dann wird mit dem Risiko gearbeitet, dass im schlimmsten Fall auch Patientinnen oder Patienten Schaden nehmen. Dies kann dauerhaft die psychische Gesundheit und das Wohlbefinden der Beschäftigten beeinträchtigen.
Was tun?
Moralische Verletzungen können vor allem durch eine ausreichende Finanzierung und Personalausstattung sowie klare Verantwortungs- und Kommunikationsstrukturen verhindert werden. Zumindest sollten Beschäftigte mit ihrem Erleben von moralischen Verletzungen ernst genommen werden.
Es kann zum Beispiel durch eine kollektive Auseinandersetzung mit moralischen Verletzungen im Rahmen regelmäßiger kollegialer Beratung psychischen Erkrankungen vorgebeugt werden. Eine gegenseitige Unterstützungskultur unter den Beschäftigten und eine Schulung von Führungskräften bezüglich psychischer Stabilisation ist ebenfalls hilfreich.
Anzeichen einer akuten Belastungsreaktion
- andauernde Anspannung, etwa reizbar oder schreckhaft sein, keinen erholsamen Schlaf finden
- unangemessene Wutausbrüche (auch Ausfälle gegenüber Patientinnen und Patienten)
- negative Gedankenspiralen
- anhaltende körperliche Erregung wie Herzklopfen, Zittern, Schwitzen
- „Neben-sich-stehen“, zum Beispiel ein Gefühl wie im Film oder Traum, Teilnahmslosigkeit
- Konzentrationsmangel, Denkblockaden, Erinnerungslücken bezüglich bestimmter Situationen
- Situationen immer wieder erleben, Gedanken, Bilder, Gerüche gehen nicht mehr aus dem Kopf, Albträume
- Niedergeschlagenheit, etwa das Gefühl, keine Freude mehr empfinden zu können
- spontan weinen müssen, oft ohne besonderen Anlass
Wenn sich die genannten Anzeichen häufen, besonders intensiv und anhaltend über viele Tage oder Wochen auftreten, können dies Vorboten für eine ernst zu nehmende gesundheitliche Beeinträchtigung sein.
Psychosomatische Beschwerden
Psychische Belastungen können sich auch in körperlichen Beschwerden ausdrücken, häufig in Form von Rückenbeschwerden. Denn innerliche Anspannung durch Stress, Zeitdruck, monotone Arbeit ohne Handlungsspielräume, Ärger, widersprüchliche Arbeitsanweisungen oder mangelnde Wertschätzung sowie die Angst um den Arbeitsplatz können sich auf die Haltung übertragen: Der Körper verkrampft und es entstehen schmerzhafte Muskelverspannungen. Informationen zu körperlichen Belastungsfaktoren und rückenfreundlichem Arbeiten, Gesundheitsschutz im Betrieb und Wirbelsäulenerkrankungen als Berufskrankheit finden Sie in unserem Faltblatt Alles Gute für den Rücken.
Was kann der Betrieb tun?
Laut Arbeitsschutzgesetz ist der Arbeitgeber verpflichtet, die Abläufe im Unternehmen so zu organisieren, dass die Beschäftigten gesundheitsgerechte und sichere Arbeitsbedingungen vorfinden. Dies umfasst auch den Schutz vor psychischer Belastung.
Psychische Belastungen bei der Arbeit sollten im Rahmen einer Gefährdungsbeurteilung bewertet werden. Dazu gehört, dass (möglichst vorbeugende) Maßnahmen ergriffen werden, die diese Belastungen beseitigen oder verringern. Beispiele für solche Maßnahmen sind etwa:
- Sicherstellung von Pausen und Ruhezeiten, zum Beispiel durch Springer-Pools
- ethische Fallbesprechungen, Supervision
- Etablierung von Hilfesystemen, Qualifizierung kollegialer Erstbetreuerinnen und -betreuer
- Etablieren klarer Verfahrensabläufe zur Notfallversorgung und -nachsorge bei Gewaltereignissen
Die Mitbestimmungsberatung der Arbeitnehmerkammer berät Interessenvertretungen im Betrieb zum Thema Arbeitsschutz und Gefährdungsbeurteilungen.
Was können Sie gemeinsam mit Ihren Kolleginnen und Kollegen tun?
- Tauschen Sie sich aus. Reden Sie mit Kolleginnen und Kollegen. Möglicherweise können Sie Zeit für eine kollegiale Beratung im Team einrichten beziehungsweise Zeiten hierfür bei Vorgesetzten einfordern.
- Fordern Sie Transparenz und Mitsprache in betrieblichen Abläufen. Wenn vorhanden, wenden Sie sich an die betriebliche Interessenvertretung (Betriebs- oder Personalrat, Mitarbeitervertretung).
- Wenden Sie sich – wenn vorhanden – an die betriebliche Sozialberatung oder den Betriebsarzt/die Betriebsärztin.
- Wenn die Arbeitsüberlastung zu einer Gefährdung von Patientinnen, Patienten oder Pflegebedürftigen zu werden droht, zeigen Sie diese bei Ihrem Arbeitgeber an – bestenfalls gemeinsam mit Ihren Kolleginnen und Kollegen. Dies ist auch haftungsrechtlich relevant (siehe Infokasten „Gefährdungsanzeige“).
- Wenn der Arbeitsdruck hoch ist und Sie immer wieder einspringen müssen: Fordern Sie gemeinsam mit Ihren Kolleginnen und Kollegen und/oder der betrieblichen Interessenvertretung die Einhaltung bestehender Personalbemessungsregelungen sowie die Einführung oder Ausweitung von Springerpool-Ressourcen und Regelungen zum Ausfallmanagement. Im Krankenhausbereich kann auch ein Tarifvertrag Entlastung, den die Gewerkschaft ver.di bereits an vielen Kliniken verhandelt hat, hilfreich sein.
Mit einer Gefährdungsanzeige/Überlastungsanzeige kommen Beschäftigte ihrer Pflicht nach Arbeitgebende darauf aufmerksam zu machen, dass durch eine Arbeitsüberlastung Schäden eintreten können, z.B. durch unzureichende Pflege. Diese können im Extremfall zu zivilrechtlicher Haftung (Schadensersatz, Schmerzensgeld), arbeitsrechtlichen Maßnahmen (Abmahnung, Kündigung) und sogar strafrechtlichen Konsequenzen führen. Wenn Arbeitgebende Kenntnis von der Gefahr haben und nicht für Abhilfe sorgen, kann sie ein Mitverschulden treffen und der Umfang der zivilrechtlichen Haftung der Beschäftigten reduziert werden. Dies gilt nur für zukünftige Gefahren. Eine Gefährdungsanzeige schützt nicht vor einer möglichen strafrechtlichen Haftung. Eine Gefährdungsanzeige sollte möglichst schriftlich an den Arbeitgebenden und in Kopie an die Interessenvertretung übergeben werden. Sie selbst sollten auch eine Kopie aufbewahren.
Was eine Gefährdungsanzeige enthalten muss:
- Name, Datum, betroffener Arbeitsbereich (z.B. Station), ggf. Nennung des direkten Vorgesetzten
- eine sehr konkrete Situationsbeschreibung, die zur Überlastung führt (z.B. krankheitsbedingte Ausfälle von Kolleginnen, zu wenig Personal)
- die aufgrund der Überlastung drohenden Mängel (z.B. unzureichende Versorgung von Patienten)
- eine Aufzählung der Aufgaben, die aufgrund der Überlastung gar nicht mehr oder nicht mehr vorrangig durchgeführt werden können
- persönliche Auswirkungen, soweit schon vorhanden (etwa: Erkrankungen)
- Aufforderung an den Arbeitgeber, Abhilfemaßnahmen zu ergreifen oder eine Umpriorisierung von Aufgaben vorzunehmen, falls er mit der von Beschäftigten vorgeschlagenen Priorisierung nicht einverstanden ist.
Was können Sie als Beschäftigte individuell tun?
Beschäftigte im Gesundheitswesen haben meist besondere Fähigkeiten entwickelt, mit Dauerbelastungen und extremen Situationen umzugehen. Anders als Beschäftigte in anderen Berufen erleben sie im Alltag viele belastende Ereignisse. Um diese zu bewältigen, können Sie selbst einiges tun, um Ihre Schutzmechanismen zu stärken:
- Akzeptieren Sie die eigenen Gefühle und Reaktionen: Sie sind kein Zeichen von Schwäche, sondern eine normale Reaktion auf eine außergewöhnliche Situation und Resultat der geleisteten Arbeit.
- Gewinnen Sie Abstand, nehmen Sie sich Zeit zur Erholung.Auch wenn Sie sich Ihren Kolleginnen und Kollegen und der Arbeit verpflichtet fühlen: Nehmen Sie sich die Ihnen zustehenden Pausen, gönnen Sie sich Ihre Freizeit und Ruhe, wenn Sie krank sind. Sie sind nicht verpflichtet, aus Ihrer Freizeit einzuspringen.
- Suchen Sie Unterstützung bei Familie, Freunden und Freundinnen, nehmen Sie Hilfe an.
- Behalten Sie vertraute Alltagsgewohnheiten und Freizeitaktivitäten bei.
- Tun Sie sich gezielt etwas Gutes.
- Seien Sie achtsam beim Genuss von Alkohol, anderen Drogen und Selbstmedikationen. Gerade wenn dies zunächst zu beruhigen und zu lindern scheint, kann es neue Probleme schaffen.
Wenn Sie sich dauerhaft psychisch belastet fühlen oder unter einer akuten Belastungssituation leiden, nehmen Sie ärztliche oder therapeutische Hilfe in Anspruch. Auch bei psychosomatischen Beschwerden können Psychotherapien oder Reha-Maßnahmen hilfreich sein.
Schlagwörter
Hilfsangebote bei psychischen Belastungen
Angebote der Berufsgenossenschaft für Gesundheitsdienst und Wohlfahrtspflege (BGW)
- Telefonische Krisenberatung
Information und Kontaktformular
- Telefonische Beratung nach Extremerlebnissen (z.B. nach Gewaltvorfällen) über die BGW Bezirksverwaltung Delmenhorst, 04221 .913-0
Kollegiale Unterstützung im Gesundheitswesen
- 0800.0 911 912
www.psu-helpline.de
Nächtliche Telefonberatung für Menschen aus Bremen
- 0421 .957 00 310
Mo bis Fr 21–8.30 Uhr, sowie Sa, So und an Feiertagen 17–8.30 Uhr
www.nachtwerk-bremen.de
Kontaktmöglichkeiten zum Kriseninterventionsdienst (KID) und zu sozialpsychiatrischen Beratungsstellen des Landes Bremen
Telefonseelsorge
- 0800. 111 0 111 oder 0800. 111 0 222
www.telefonseelsorge.de
Downloads
Psychisch gesund bleiben bei der Arbeit - Infos für Beschäftigte im Gesundheitswesen
Gesundheitsinfo, Oktober 2023
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