Rückenfreundlich arbeiten
Es klingt absurd: Obwohl immer weniger Beschäftigte heute beruflich körperliche Schwerstarbeit verrichten, steigt die Zahl der Rückenerkrankungen rapide an. Und die Betroffenen werden immer jünger.
Text: Niklas Wellmann
Juli 2023
In den vergangenen Jahren wurden durchschnittlich über ein Viertel der Arbeitsunfähigkeitstage durch Muskel- und Skeletterkrankungen verursacht. Dabei sind oft keine eindeutigen organischen Ursachen nachweisbar. Mehr als ein Viertel der vorzeitigen Verrentungen entfällt inzwischen auf Krankheiten des Skeletts, der Muskeln und des Bindegewebes. Maßnahmen, die ein rückenfreundliches Arbeiten ermöglichen, schützen die Gesundheit von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern.
Unterschiede bei Rückenschmerzen
Rückenschmerzen treffen alle Geschlechter, und doch gibt es auch hier einen kleinen Unterschied: Frauen haben häufiger und länger Rückenschmerzen als Männer, die eher zu kurzen, scharfen Schmerzattacken neigen. Während Männer ihre Rückenprobleme öfter Verletzungen verdanken, bekommen Frauen sie als Folge der alltäglichen und beruflichen Belastung. In vielen typischen „Frauenberufen“, wie bei Altenpflegerinnen und Verkäuferinnen, aber auch in „Männerberufen“ wie Bauarbeiter oder Kraftfahrzeugführer wird der Rücken stark beansprucht.
Aufgrund geschlechtsspezifischer Rollenmuster können Männer mit hohen körperlichen Belastungen dazu neigen, sich zu „überheben“. Bei Frauen hingegen können gynäkologische Erkrankungen, Menstruationsbeschwerden, schwere Brüste oder eine Schwangerschaft Rückenschmerzen verursachen.
Tipp für den Alltag
Wir tun dem Kreuz im Arbeitsleben und im Alltag vieles an, was wir problemlos anders und besser machen könnten: Rückenfreundliches Verhalten in Alltag und Beruf kann helfen, gesund und fit zu bleiben. Unterbrechen Sie beispielsweise den Arbeitstag immer mal wieder mit kleinen Bewegungsübungen. In der Mittagspause könnte ein kleiner Spaziergang helfen, vielleicht lässt sich auch der Arbeitsweg zu Fuß oder mit dem Fahrrad machen. Zu den rückenfreundlichen Sportarten zählen zum Beispiel Walking, Laufen oder Radfahren.
Wenn dauerndes Kreuzweh ein Symptom anderer Krankheiten ist, trifft dies alle Geschlechter. Das kann vorkommen bei Magengeschwüren, Entzündungen von Blase, Darm, Nierenbecken oder Gallenblase, als Begleiterscheinung oder Folge von Krebs. Dieses Informationsblatt zeigt auf, wie arbeitsbedingten Rückenbeschwerden vorgebeugt und der Rücken gestärkt werden kann. Rückenbeschwerden können vielfältige Ursachen haben. Im Folgenden ein paar Beispiele:
Belastungen im Sitzen
Der Rücken nimmt’s krumm, wenn man sich wenig bewegt. Dies trifft in der Regel auf all jene zu, die im Beruf überwiegend sitzen. An Bildschirmarbeitsplätzen werden mit einem Mausklick Gegenstände befördert, Abläufe gesteuert und überwacht oder Unterlagen herausgesucht.
Sitzen beansprucht die Bandscheiben und die Rückenmuskulatur jedoch stärker als Stehen oder Gehen. Die Belastungen verstärken sich, wenn noch Erschütterungen dazukommen, zum Beispiel beim Fahren von Gabelstaplern. Durch ständiges Sitzen erschlafft die Bauch- und Rumpfmuskulatur. Dies macht anfällig für Verspannungen, denn eine nach vorn gebeugte, verdrehte oder angespannte Haltung beansprucht Bänder und Bandscheiben. Atmung, Blutzirkulation sowie Verdauung werden behindert.
Vorteilhaftes Sitzen
Entscheidend ist die Art des Sitzens. Dynamisches Sitzen etwa entlastet den Rücken erheblich. Dies ermöglicht ein ergonomischer Stuhl, der alle Bewegungen mitmacht. Die Wirbelsäule wird dabei stets von der Rückenlehne abgestützt. Es empfiehlt sich zudem, häufiger zwischen Sitzen, Stehen und Bewegen abzuwechseln:
- Gründe schaffen aufzustehen
- kürzere Wege einbauen, zum Beispiel statt zu telefonieren, mailen oder chatten das persönliche Gespräch suchen
- Unterlagen auch außerhalb der eigenen Reichweite aufbewahren
- Wechselnde Haltungen wie Stehen oder Gehen reduzieren die Belastungen
Belastungen im Stehen
Obwohl das Stehen in physiologisch korrekter, nämlich aufrechter Haltung die Bandscheiben weniger belastet als das Sitzen, beansprucht andauerndes Stehen im Arbeitsalltag ebenfalls den Rücken. Allein in den zwei häufigsten Frauenberufen, Friseurin und Verkäuferin, stehen täglich rund 1,5 Millionen Frauen stundenlang. Aber auch Pflegekräfte und Personal in Gaststätten oder am Fließband sind betroffen.
Langes Stehen strapaziert Muskeln, Gelenke und vor allem die Wirbelsäule mit ihren Bandscheiben. Es belastet den Kreislauf, beansprucht die Blutgefäße und macht müde. Jede Abwechslung und Bewegung ist da willkommen.
Vorteilhaftes Stehen
Der Rücken muss gezielt entlastet werden, um der Ermüdung der Muskeln entgegenzuwirken. Auch bei der Arbeit im Stehen gilt das Motto Die richtige Haltung ist die nächste Haltung:
- Bequeme Schuhe sind besser als Schuhe mit Absätzen.
- Wechselnde Haltungen reduzieren Belastungen und entlasten die Wirbelsäule.
- Langes Stillstehen kann die Blutzirkulation stören. Das Gewicht von einem Bein aufs andere zu verlagern oder die Zehen zu bewegen kann dem entgegenwirken.
Belastung beim Heben und Tragen
Heben und Tragen, Ziehen oder Schieben kommt in vielen Berufen vor. Beschäftigte, die regelmäßig schwere Lasten mit ihrer eigenen Körperkraft bewegen müssen, haben eine hohe Belastung der Wirbelsäule und ein deutlich höheres Risiko, an chronischen Bandscheibenleiden zu erkranken. Muss in verdrehter Körperhaltung oder anderen Zwangshaltungen gearbeitet werden oder werden nur bestimmte Körperpartien einseitig und übermäßig beansprucht, steigt das Risiko für degenerative Leiden des Stütz- und Bewegungsapparates.
Mit Lasten anders umgehen
Die Lastenhandhabungsverordnung ist Grundlage für den Arbeitsschutz, um geeignete Schutzmaßnahmen im Hinblick auf die Last, die Arbeitsaufgabe und die Beschaffenheit des Arbeitsplatzes und der Arbeitsumgebung zu ergreifen. Wenn sich Heben und Tragen nicht vermeiden lassen, kommt es dabei auf geeignete Hilfsmittel und die richtige Technik an. Wie im Arbeitsschutz üblich sind auch hier technische Maßnahmen vor den persönlichen Maßnahmen einzurichten.
Vorteilhaftes Heben und Tragen
- Körpernah heben und tragen. Das verbessert die Hebelwirkung und schont die Wirbelsäule.
- Aus der Hocke mit geradem Rücken heben. So leistet auch die Oberschenkelmuskulatur ihren Beitrag.
- Verdrehte Körperhaltungen vermeiden. Lasten mit geradem Rücken absetzen.
Lastgewichte für Beschäftigte
Es gibt keine rechtsverbindlichen Grenzwerte für Lastgewichte für Beschäftigte. Schwangere dürfen hingegen laut Mutterschutzgesetz nicht mehr als 5 kg häufig und nicht mehr als 10 kg gelegentlich heben und tragen. Die Leitmerkmalmethode der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin unterstützt bei der Gefährdungsbeurteilung.
Belastungen psychischer Art
Die Psyche gefährdende Arbeitsbedingungen können sich häufig auch als Rückenbeschwerden äußern.
Denn äußere Einflüsse wie umständliche Arbeitsorganisation, Zeitdruck, monotone Arbeit, wenig Handlungsspielräume, Ärger, widersprüchliche Arbeitsanweisungen oder mangelnde Wertschätzung sowie die Angst um den Arbeitsplatz können zu erheblicher innerer Anspannung und so auch zu Muskelverspannungen führen.
Vorteilhaftes Führen
Der daraus resultierende Stress kann abgebaut werden, indem monotone sowie verantwortungs- und entscheidungsarme Arbeitsaufgaben so verändert werden, dass abwechslungsreiche Tätigkeiten entstehen. Auch wenn Beschäftigte sich die Arbeit stärker selbst einteilen und über den Arbeitsablauf bestimmen können, werden psychische Belastungen reduziert. Rückmeldungen zum Arbeitsergebnis, transparente Entscheidungsprozesse und eine entsprechende betriebliche Informationspolitik fördern ebenfalls die Arbeitszufriedenheit und stärken die Gesundheit der Beschäftigten.
Gesundheitsschutz im Betrieb
Zielgerichteter Arbeitsschutz trägt dazu bei, den Rücken gesund zu erhalten: Der Arbeitgeber muss anhand der Gefährdungsbeurteilung ermitteln, ob er die Beschäftigten vor gesundheitlichen Risiken bei der Arbeit schützen muss. Dabei kann er auf den fachkundigen Rat des Betriebsarztes/der Betriebsärztin und der Fachkraft für Arbeitssicherheit zurückgreifen. Darüber, wie die Gesundheit geschützt werden soll, muss der Arbeitgeber die Beschäftigten unterrichten.
Im Rahmen der arbeitsmedizinischen Vorsorge können der Betriebsarzt oder die Betriebsärztin die Beschäftigten vertraulich zur gesundheitlichen Belastung beraten.
Nach dem Präventionsgesetz fördern Krankenkassen Maßnahmen der betrieblichen Gesundheitsförderung, in enger Verzahnung mit dem Arbeitsschutz. Der Betriebs- oder Personalrat, zu dessen Aufgaben auch die Überwachung des betrieblichen Arbeitsschutzes zählt, hat bei allen Maßnahmen des Arbeitsschutzes und der Gesundheitsförderung im Betrieb weitreichende Beteiligungsrechte. Interessenvertretungen, die den Arbeits- und Gesundheitsschutz im Betrieb verbessern wollen, erhalten Unterstützung bei der Mitbestimmungs- und Technologieberatung der Arbeitnehmerkammer.
Arbeit gesundheitsgerecht gestalten
Die Wirbelsäule „lebt“ von der Bewegung und von wechselnden Körperhaltungen. Rückengerecht gestaltete Arbeitsbedingungen reduzieren die Belastung und beugen gesundheitlichen Beschwerden vor. Priorität haben technische Gestaltungsmaßnahmen. Aber auch die Arbeitsorganisation spielt eine wesentliche Rolle, denn Mischarbeit fördert den Wechsel von Be- und Entlastung. Am wirksamsten ist es, technische und organisatorische Maßnahmen und rückengerechtes Verhalten zu kombinieren und für einen Wechsel zwischen höherer und geringerer körperlicher Belastung zu sorgen.
Einseitige Belastungen durch Computerarbeit können im Wechsel mit organisatorischen Auf- gaben oder Kundengesprächen verringert wer- den. Lässt sich Mischarbeit in der Praxis nicht umsetzen, braucht es Unterbrechungen durch regelmäßige Bildschirmpausen.
Steharbeitsplätze können mit Stehhilfen ausgestaltet oder so gestaltet werden, dass zeitweiliges Gehen und Sitzen während der Arbeit möglich ist. Darüber freuen sich der Halteapparat, die Füße und der Kreislauf. Allerdings muss dabei die Arbeitshöhe der Tätigkeit angepasst sein. Eine Verkäuferin etwa kann zeitweise an der Kasse sitzen, Lagerbestände überprüfen, Ware im Sitzen auszeichnen, Ware nachfüllen und so weiter.
Bedarfssitze sollten nahe beim Arbeitsplatz zur Verfügung stehen und ohne schlechtes Gewissen zwischendurch für eine kurzzeitige Entlastung genutzt werden, wenn Mischarbeit und Belastungswechsel nicht möglich sind.
Lastgewichte verringern sich, wenn Lasten auf mehrere kleine Gebinde verteilt oder leichtere Verpackungen verwendet werden.
Das Heben, Tragen und Transportieren von Lasten kann durch technische Hilfsmittel wie Hebe- und Tragehilfen, Transportmittel und höhenverstellbare Arbeitsplattformen oder Lifter erleichtert werden. Belastungswirkungen können auch durch Mischarbeit und Aufgabenwechsel gemindert werden.
Aufgabenvielfalt kann den Abbau von Stress fördern. Eine gute Arbeitsorganisation ermöglicht verschiedene geistige Anforderungen, Körperhaltungen und Bewegungen im Wechsel.
Eine Verringerung des Arbeitstempos und Kurzpausen, insbesondere bei hohem Arbeitsdruck, sind weitere Möglichkeiten.
- Bremer Beratungsstelle zu Berufskrankheiten
„Wer rastet, der rostet“ oder „Sich regen bringt Segen“, heißt es. Oder: Wen Sorgen quälen, der ist „gramgebeugt“. Wer sich fürchtet, dem sitzt die „Angst im Nacken“ und bei Misserfolgen lässt manch einer „den Kopf hängen“. Schon der alltägliche Sprachgebrauch verweist auf die Einheit von Körper und Psyche.
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Wirbelsäulenerkrankung als Berufskrankheit
Bei begründetem Verdacht, dass eine schwere bandscheibenbedingte Erkrankung der Wirbelsäule durch den Beruf entstanden ist (z. B. Bandscheibenvorfall), sollte dies bei der zuständigen Berufsgenossenschaft (BG) oder der Unfallkasse angezeigt werden. Dies ist zu empfehlen, wenn die berufliche Tätigkeit mindestens zehn Jahre mit Rückenbelastungen durch schweres Heben und Tragen verbunden war (BK 2108, BK 2109).
Als Sonderfall können Bandscheibenerkrankungen auch durch die jahrelange Einwirkung von Schwingungen im Sitzen entstehen, bei- spielsweise beim Fahren von schweren Baumaschinen (BK 2110).