In einem bislang bundesweit einzigartigen Masterstudiengang an der Universität Bremen lernen Interessenvertreterinnen und -vertreter Methoden und Strategien für ihre Arbeit im Gremium. Zwei Studierende erzählen.
Text: Insa Lohmann
Foto: Kay Miachalak
1. Mai 2024
Auf dem Foto oben: Michael Adebar und Natalie Kaluzny
Ob Krankheit, Sorge um den Arbeitsplatz oder Konflikte mit den Vorgesetzen: Wenn ihre Kolleginnen und Kollegen nicht mehr weiterwissen, kommen sie zu Natalie Kaluzny und Michael Adebar. Die beiden Beschäftigten aus Bremen sind als Betriebs- und Personalrat oft die ersten Ansprechpartner für Fragen, Probleme und Konflikte der Angestellten. Jedes Anliegen ist individuell, nicht immer ist die Sachlage eindeutig. „In der Beratung der Mitarbeitenden muss man sehr feinfühlig und sensibel herausarbeiten, worum es eigentlich geht“, sagt Natalie Kaluzny, stellvertretende Personalrätin bei der Handelskrankenkasse. „Im Studium habe ich gelernt, worauf ich zu achten habe.“
„Die Arbeit von Personal- und Betriebsräten ist anspruchsvoller geworden.“
Peer Rosenthal, Hauptgeschäftsführer der Arbeitnehmerkammer
Die 35-Jährige studiert an der Universität Bremen „Arbeit – Beratung – Organisation“, ein bundesweit einzigartiger Masterstudiengang, der sich speziell an Interessenvertretungen richtet. Seit 2019 können Betriebsräte, Personalräte, Mitarbeitervertretungen, Schwerbehindertenvertretungen und Gleichstellungsbeauftragte berufsbegleitend über vier Jahre diesen Zertifikatsstudiengang belegen.
Während es im ersten Studienjahr unter anderem um Theorie und Praxis der Beratung geht, liegt der Schwerpunkt im zweiten Studienjahr auf Fragen der Personal- und Organisationsentwicklung. Im weiteren Verlauf lernen die Teilnehmenden Grundlagen zur Arbeits- und Technikgestaltung sowie zum Bereich Beteiligung. Auch Praxisprojekte werden eingebunden.
Das weiterbildende Masterstudium wurde vom Zentrum für Arbeit und Politik der Universität Bremen, der Arbeitnehmerkammer Bremen und der Akademie für Weiterbildung ins Leben gerufen und knüpft mit seinen Inhalten an die komplexen Transformationsprozesse in der Arbeitswelt an: Was bedeutet der Fachkräftemangel für die Arbeitsbedingungen von Mitarbeitenden? Wie kann der Betriebsrat bei neuen Techniken mitreden? Wie können Produktionsprozesse umgestellt werden?
Michael Adebar ist Betriebsratsvorsitzender am Leibniz-Institut für Werkstofforientierte Technologien. Als an seinem Institut ein komplexer Organisationsentwicklungsprozess starten sollte, entschied er sich kurzerhand für den Master an der Uni Bremen. „Bei so einem Prozess wird jeder Stein umgedreht, das geht nicht ohne Know-how“, sagt der 43-jährige Baustoffprüfer. „Ich bin deswegen direkt mit dem Modul Personal- und Organisationsentwicklung eingestiegen und konnte das Wissen sofort in der Praxis umsetzen. Für mich hat sich da eine ganz neue Welt in der Mitbestimmung geöffnet.“
„Ich konnte das Wissen sofort in der Praxis umsetzen.“
Michael Adebar
Auch Natalie Kaluzny hat das Wissen aus dem Studium dabei geholfen, ihre bisherige Arbeit im Personalrat der HKK Krankenkasse zu professionalisieren. „Man bekommt konkrete Beratungsmethoden an die Hand und lernt, über den Tellerrand hinauszublicken.“ Dieser Perspektivwechsel sei vor allem bei Verhandlungen mit dem Vertragspartner wichtig. „Das Ziel ist immer, einen Kompromiss zu finden, der für beide Seiten tragbar ist“, sagt die Personalrätin. „Das Studium hilft mir dabei, eigene Lösungen zu entwickeln und die Erfahrungen aus Arbeit und Studium zusammenzubringen.“ Doch auch die Arbeit von Personal- und Betriebsräten habe ihre Grenzen. Kaluzny: „Manchmal kann man nicht mehr machen.“ Im Studium lernt die Sozialversicherungsfachangestellte aus Bremen diese Grenzen zu erkennen und über fundierte Methoden dies auch den Angestellten mitzuteilen. Betriebsratsarbeit ist heute mehr als das Reagieren auf Entscheidungen der Unternehmensleitung. Es geht um Mitgestaltung, eigene Lösungen anbieten und diese auch fundiert begründen zu können.
„Die Arbeit von Personal- und Betriebsräten ist anspruchsvoller geworden“, sagt Peer Rosenthal, Hauptgeschäftsführer der Arbeitnehmerkammer Bremen. „Der Studiengang soll ihre Kompetenzen erweitern, an die betrieblichen Herausforderungen anknüpfen und sie dazu befähigen, sich besser auf Verhandlungen mit dem Arbeitgeber vorzubereiten. Mit dem Abschluss in Form eines Masters oder Zertifikats soll das Erlernte auch formal anerkannt werden.“ Denn während ihrer Arbeitszeit erwerben die Gremienmitglieder eine Vielzahl an Kompetenzen abseits ihres eigentlichen Berufs, die aber nirgendwo dokumentiert werden, wie Simone Hocke weiß: „Das hat zur Folge, dass sie nach ihrer Rückkehr in den Beruf unzufrieden sind, da sie nach der Amtszeit ihr Wissen nicht mehr anwenden können“, so die Erziehungswissenschaftlerin, die den Studiengang an der Uni Bremen konzipiert hat. „Deswegen braucht es ein Angebot, mit dem Betriebsräte ihre erworbenen Fähigkeiten in dieser Zeit in einen Abschluss bringen können und so ihre Chancen auf eine qualifizierte Stelle erhöhen.“ Die meisten Studierenden sind zwischen 30 und Mitte 40, 75 Prozent von ihnen sind Frauen.
„Das Studium hilft mir dabei, eigene Lösungen zu entwickeln.“
Natalie Kaluzny
Der Studiengang ist als Zertifikatsmodell angelegt: So ist es möglich, alle drei Studienbereiche zu belegen und am Ende seine Masterarbeit zu schreiben – oder auch nur einen zu studieren und diesen jeweils mit einem Zertifikatsabschluss zu beenden. Die Kosten für das gesamte Masterstudium belaufen sich auf 19.200 Euro, ein Studienjahr mit Zertifikat kostet 5.600 Euro. Mitglieder der Arbeitnehmerkammer Bremen erhalten zehn Prozent Rabatt auf die Studiengangskosten. Bisher haben meist die Arbeitgeber die Kosten übernommen. Bei Fragen zur Finanzierung können sich Studieninteressierte jederzeit an Simone Hocke wenden und sich auch alternative Finanzierungsmöglichkeiten erläutern lassen. Simone Hocke hat außerdem durchgesetzt, dass weder ein Bachelorabschluss noch Abitur Voraussetzung zur Zulassung sind. Stattdessen können Bewerberinnen und Bewerber wichtige Tätigkeiten aus ihrer Betriebsratsarbeit nachweisen.
Für Michael Adebar und Natalie Kaluzny ist das Studium nicht nur in fachlicher Hinsicht ein Gewinn, auch menschlich haben sie seitdem viel gelernt. „Ich gewinne immer mehr an Sicherheit in der Beratung, auch bei Führungskräften“, sagt Michael Adebar, der seit 2019 freigestellt ist, um sich in Vollzeit um die Belange der Belegschaft zu kümmern. Beiden ist die Arbeit im Betriebs- und Personalrat eine Herzensangelegenheit: „Ich möchte für die Interessen der Mitarbeitenden einstehen und aktiv mitgestalten“, sagt Natalie Kaluzny.
Weitere Infos
Im September 2024 starten zwei Zertifikatsstudiengänge für Interessenvertretungen an der Uni Bremen. Im berufsbegleitenden Master „Arbeit – Beratung – Organisation“ vom Zentrum für Arbeit und Politik der Universität Bremen und der Arbeitnehmerkammer Bremen beginnen die Studiengänge „Arbeitsbezogene Beratung“ und „Partizipative Personal- und Organisationsentwicklung“.
Dauer: zwölf Monate (18 Präsenztage)
Bewerbungsfrist: 30. Juni 2024
Studienbeginn: 1. September 2024
Weitere Infos: www.uni-bremen.de/mabo oder unter 0421 . 21 85 67 07