Logo Mitbestimmung stärkt die Demokratie

„Demokratie ist etwas, das wir selber machen“

Interview: Warum es so wichtig ist, Mitbestimmung zu erleben

Die Arbeitnehmerkammer und die Bremische Bürgerschaft laden am 5. September 2024 zu einer Diskussionsveranstaltung ein, um über die Rolle betrieblicher Mitbestimmung für die Demokratie zu debattieren. Mit auf dem Podium sitzt Dr. Johannes Kieß von der Universität Leipzig. Ein Gespräch über Gemeinsamkeiten zwischen Bremen und Sachsen, die Gestaltung von Veränderungen und die Frage, was jeder von uns tun kann.

Die Diskussionsveranstaltung steht unter dem Motto „Mitbestimmung stärkt die Demokratie“. Wie wichtig ist die Mitbestimmung für die Demokratie in Ostdeutschland?

Johannes Kieß: Die ist überall wichtig! Demokratie ist ein Prozess, etwas, das immer wieder gelebt werden und sich erneuern muss. Das gilt überall, für den Osten aber noch etwas stärker, weil Parteien, Gewerkschaften und auch Kirchen hier weniger stark verankert sind. Mitbestimmung in der Arbeitswelt ist deshalb im Osten noch wichtiger, als das grundsätzlich schon der Fall ist. Zugleich ist Sachsen unter den Bundesländern das Schlusslicht, was die Mitbestimmung angeht, in Thüringen und Sachsen-Anhalt sieht es auch nicht viel besser aus. Das liegt nicht nur daran, dass Beschäftigte seltener Mitglieder in Gewerkschaften sind und die Betriebsratsdichte geringer ist, das liegt auch an der Wirtschaftsstruktur, die teilweise viel kleinteiliger ist. Und je kleiner Unternehmen sind, desto seltener sind sie mitbestimmt.

Gibt es einen Zusammenhang zwischen weniger Mitbestimmung und mehr Zuspruch für demokratiefeindliche Positionen?

Es ist ein Teil des Puzzles. Das Erleben von Demokratie, das Gefühl, mitbestimmen zu können und Teil von Politik zu sein, weil Demokratie zu meinem Leben gehört – das ist im Osten weniger ausgeprägt. Das führt zu Entfremdung und macht die Wahl rechtsextremer Parteien wahrscheinlicher. Trotzdem ist die Zustimmung zu Demokratie als Idee im Osten genauso hoch wie in Westdeutschland. Das darf man nicht vergessen.

Woher kommt dann dieser Vertrauensverlust in die Demokratie?

Die stärkere Distanz zum politischen System hat viele Gründe. Ein Faktor in Ost und West ist, dass Menschen in der Schule und im Betrieb zu selten die Erfahrung machen, dass Demokratie etwas mit ihnen zu tun hat und sie da selbst aktiv werden müssen. Für den Osten spielen zusätzlich die Transformationsprozesse in den 90er-Jahren eine Rolle, die Erfahrung, dass man von heute auf morgen arbeitslos wird und einem immer wieder Arbeitslosigkeit droht. Das ist etwas, das tief in den Menschen drinsteckt, in den Familien wird das auch an die jüngere Generation weitergegeben. Und die Vorstellung, dass es früher irgendwie besser war, ist zwar unberechtigt, aber das finden wir ja durchaus auch in Westdeutschland. Diese harten Transformationsprozesse erklären zum Teil auch, warum Parteien und Gewerkschaften im Osten bis heute Probleme haben, sich im Land und in der Fläche zu verankern. Wenn Millionen Menschen innerhalb weniger Jahren wegziehen, ist es natürlich schwierig, Parteistrukturen und Gewerkschaften aufzubauen. Städte wie Hoyerswerda hatten zu DDR-Zeiten 70.000 Einwohner oder noch mehr – jetzt nicht einmal mehr die Hälfte. Man spürt, dass sie überaltert sind, die Leute haben das Gefühl, abgehängt zu sein – auch wenn sich das gar nicht immer in ökonomischen Zahlen zeigen lässt.

"Ich glaube, man darf nicht übersehen, dass wir landesweit Gefahr laufen, unsere Demokratie selbst verächtlich zu machen."


Dr. Johannes Kieß ist stellvertretender Direktor des Else-Frenkel-Brunswik-Instituts für Demokratieforschung der Universität Leipzig

Dr. Johannes Kieß, Uni Leipzig

Strukturschwächere Region und Menschen mit niedrigerem Einkommen und Bildungsstand gelten als anfälliger für autoritäre Einstellungen. All das finden wir auch im Land Bremen. Wie gefährdet sind wir hier?

Ich glaube, es gibt schon Unterschiede zwischen Bremen und peripheren Regionen im Erzgebirge. Es geht ja nicht nur um den wirtschaftlichen Wohlstand, sondern auch um die Angst vor den Veränderungsprozessen und die Infrastruktur. Das fängt schon beim Bäcker und dem Supermarkt und dem fehlenden Nahverkehr an. Das sind Erfahrungen und Entwicklungen, die natürlich auch in Bremen und Umgebung gemacht werden – aber die Unterschiede zwischen autoritären und weniger autoritären Einstellungen sind zwischen Ost und West auch gar nicht so groß. Ich glaube, man darf nicht übersehen, dass wir landesweit Gefahr laufen, unsere Demokratie selbst verächtlich zu machen.

Wie schätzen Sie die weitere Entwicklung ein, gerade angesichts der Transformationsprozesse und der Probleme in der Daseinsvorsorge?

Es kommt darauf an, den Menschen ein Gefühl zu vermitteln, dass sie, aber auch die Politik handlungsfähig sind und dass man diese Transformationsprozesse gestalten kann. Sie müssen das Gefühl haben, beteiligt zu sein und nicht davon überrollt zu werden. Dann können Veränderungen sehr wohl auch positiv wahrgenommen werden. Gerade in den letzten Jahren ist die politische Debatte sehr stark davon geprägt, dass alles in der Krise ist. Hinzu kommen ideologische Barrieren wie etwa die Schuldenbremse, die Gestaltung erschweren. Transformation muss man gestalten, dafür braucht es Gestaltungswillen und die finanziellen Mittel. Die haben wir als sehr reiches Land. Wir müssen sie nur nutzen wollen.

Was kann man ihrer Ansicht nach als Beschäftigter tun, um sich für Demokratie einzusetzen?

Jeder kann aktiv werden, zum Beispiel in einer Partei oder Gewerkschaft oder anderen zivilgesellschaftlichen Organisationen und auch Betriebsräte unterstützen. Man kann mit den Kolleginnen und Kollegen ins Gespräch kommen – auch das ist sehr wichtig, um zu verstehen, dass Demokratie etwas ist, das wir selber machen. Vielleicht vergessen wir das manchmal, weil wir so viel damit zu tun haben, unseren Alltag zu organisieren und uns vor all den Krisen schützen wollen oder davon etwas gelähmt werden. Es gibt auch in Ostdeutschland sehr viele, sehr tolle engagierte Menschen, und die muss man unterstützen.

Was können Betriebe und Betriebsräte ausrichten?

Es gibt natürlich Betriebsräte, die eher verwalten und Betriebsräte, die stärker gestalten. Da gibt es einen Spielraum, den kann man nutzen. Auch die Betriebe müssen verstehen, dass sie nur in einer freiheitlichen und demokratischen Gesellschaft wirklich erfolgreich Geschäfte machen können. Die AfD ist da eine echte Gefahr, auch für die Wirtschaft und die Gewinnung von Fachkräften und Auszubildenden. Umfragen zeigen, dass Sachsen oder Thüringen für junge Fachkräfte wegen der starken AfD-Ergebnisse nicht attraktiv sind – die Ergebnisse sind eine Katastrophe für diese Region. Denn diese Menschen werden gebraucht. Unternehmer können sich da stärker positionieren und demokratische Parteien unterstützen. Ich glaube, da sollten wir die bürgerschaftliche Identität wieder stärken und die Verteidigung der Demokratie als Bürgertugend wieder stärker in den Blick nehmen.

Datum: 27. August 2024

Grafik: Bremische Bürgerschaft
Foto: Universität Leipzig 

Fragen: Jan Zier

 

Politik meets Betrieb: Mitbestimmung stärkt die Demokratie

Donnerstag, 5. September 2024 um 17 Uhr
Einlass ab 16:30 Uhr

 

Haus der Bürgerschaft, Festsaal
Am Markt 20, 28195 Bremen

 

Keynote: Martina Zandonella (Foresight-Institut, Wien): 

"Soziale Ungleichheit, Demokratie & die Rolle von betrieblicher Mitbestimmung"


Paneldiskussion: 
Antje Grotheer (Präsidentin der Bremischen Bürgerschaft),
Dr. Johannes Kieß (Else-Frenkel-Brunswik-Institut für Demokratieforschung, Universität Leipzig),
Martina Zandonella (Foresight-Institut, Wien)
Ralf Wilke (Betriebsrat bei der Mercedes Benz AG),
Cornelius Neumann-Redlin (Die Unternehmensverbände im Lande Bremen e. V.)

 

Moderation: Elke Heyduck (Geschäftsführerin der Arbeitnehmerkammer)
Die Veranstaltung ist kostenfrei, die Teilnehmerzahl ist begrenzt.

 

Anmeldung unter wolff@arbeitnehmerkammer.de bis spätestens 30. August bzw. solange die Plätze reichen.