Text: Ulf Buschmann
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1. September 2022
Familie Hirschler aus Hemelingen: Sie ist ausgebildete Pflegefachkraft und arbeitet in Teilzeit in der häuslichen Pflege. Er verdient sein Geld in der Gepäckabfertigung des Bremer Flughafens. Die beiden Kinder besuchen die Grundschule im Ortsteil. Die Hirschlers wohnen zur Miete. Eigentlich eine Bremer Durchschnittsfamilie, wie sie es in jedem Quartier gibt – Familie Hirschler ein erdachter Querschnitt.
Wie 28 Prozent der Bevölkerung gehören die Hirschlers zu den armutsgefährdeten Menschen. Ihr verfügbares Nettoeinkommen liegt bei knapp 2.100 Euro. Dies sind weniger als 60 Prozent des durchschnittlichen mittleren Einkommens. Nicht viel besser dran ist der ebenfalls erdachte Enno Hinrichs aus Bremerhaven. Der knapp 40-Jährige ist arbeitslos und bekommt sein Geld vom Jobcenter der Seestadt – dies geschieht nach dem Sozialgesetzbuch II (SGB II), im Volksmund „Hartz IV“.
Was Familie Hirschler und Enno Hinrichs gleichermaßen umtreibt, sind die in den vergangenen Monaten rasant steigenden Preise – und dass nicht etwa für sogenannte Luxusartikel, sondern für Güter und Dienstleistungen der Grundversorgung: Lebensmittel, Bekleidung, Energie. Wenn es vorher schon knapp war, so wissen weder die Hemelinger noch der Bremerhavener, wie sie die steigenden Kosten auffangen sollen. Einsparmöglichkeiten? Gibt es nicht! Rücklagen? Nicht vorhanden. Kurz: Die Inflation kommt vor allem bei den Menschen an, die Grundsicherung bekommen oder im Niedriglohnsektor arbeiten.
Regelsätze und Mindestlohn hoch
Regine Geraedts, Referentin für Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik der Arbeitnehmerkammer Bremen, beobachtet diese Entwicklung mit Sorge. Nicht nur sie, auch andere Fachleute schätzen: „In diesem und erst recht im nächsten Jahr rollt ein ganz großes soziales Problem auf uns zu.“ Im Land Bremen seien ohnehin viele Haushalte armutsgefährdet, erläutert Geraedts. Ihre Quote liege bei rund 28 Prozent. Sie sowie ihre Kolleginnen und Kollegen unter anderem von den Wohlfahrtsverbänden richten deshalb einen dringenden Appell an die Bundesregierung: Die SGB II-Regelsätze müssen noch in diesem Jahr angehoben werden. Gleiches gelte für den gesetzlichen Mindestlohn. Dieser müsse sehr viel schneller angepasst werden als wie geplant 2024.
120.000 Menschen im Land Bremen bekommen Mindestsicherungsleistungen (SGB II / „Hartz IV“ oder Grundsicherung im Alter).
Statistische Ämter des Bundes und der Länder, 2020
Ihre Forderungen unterstreicht die Arbeitnehmerkammer-Referentin mit Zahlen. Der eh schon knapp bemessene Regelsatz nach SGB II liegt aktuell bei 449 Euro. Der eingerechnete Anteil für Nahrungsmittel und Getränke beträgt 34,7 Prozent oder 155,82 Euro. Doch im Juni seien alleine die Preise für Lebensmittel um 12,7 Prozent gestiegen. Somit muss ein Durchschnittsmensch wie Enno Hinrichs im Jahresvergleich 19,80 Euro mehr für Nahrung und Getränke ausgeben. Da zwar die Preise, aber nicht die Sätze steigen, ist das Geld dafür rechnerisch am 26. eines jeden Monats alle.
Der Problemberg
Damit ist die Abwärtsspirale noch nicht erreicht. Denn: Im Regelsatz von Enno Hinrichs sind die Stromkosten in Höhe von 36,44 Euro pro Monat enthalten. Doch auch hier sind die Kosten gestiegen – um 22 Prozent. Real liegen sie bundesdurchschnittlich um 13,50 Euro höher. „Wo sollen die höheren Stromkosten eingespart werden, wenn es schon fürs Essen nicht reicht?“, fragt sich nicht nur Geraedts. Da türme sich ein ganzer Berg von Problemen auf.
Immerhin übernimmt das Jobcenter die Heizkosten für Enno Hinrichs. Da sieht es für die Familie Hirschler schlechter aus. Die Hemelinger sehen sich mit einem Anstieg bei Strom und Heizung von 40,7 Prozent binnen Jahresfrist konfrontiert – und rechnen nun schon, ob sie die Nachzahlungen überhaupt stemmen können. Die in Bremen ausgerechnet in diesem Jahr gestiegenen Gebühren für Wasser, Abwasser und Müll kommen auch noch oben drauf. Für das kommende Jahr stellt Referentin Geraedts denn auch fest: „Die zweite Miete wird deutlich höher als im Vorjahr. Für viele wird es richtig weh tun, für andere aber gar nicht mehr zu tragen sein.“
Mehr Geld zu den Menschen
Was also tun, wenn sich nichts mehr einsparen lässt? Die Alternative: Es muss deutlich mehr Geld bei den Menschen ankommen. Beispiel Mindestlohn: Die Erhöhung ab Oktober auf dann zwölf Euro „kommt gerade noch rechtzeitig bei den Menschen an der untersten Lohngrenze an“, findet Geraedts. Doch vor dem Hintergrund der rasant steigenden Preise dürfe die Anpassung nicht nachlaufend und nur alle zwei Jahre stattfinden. Immerhin: Beim Wohngeld soll es ab 2023 eine Energiekostenpauschale geben. „Aber die muss hoch genug sein“, fordert die Arbeitnehmerkammer-Referentin von der Bundesregierung. Und die in der Ampel umstrittenen 40 bis 50 Euro Erhöhung der Hartz IV-Sätze? „Die sind nicht mal ein Tropfen auf den heißen Stein und durch die Inflation schon lange verzischt, ehe sie bei den Menschen ankommen“, konstatiert Geraedts.