Arbeiten und Angehörige pflegen

Doppelbelastung ohne Feierabend

Dass eine nahestehende Person pflegebedürftig wird, kann von heute auf morgen passieren. Wer die Pflege selbst übernimmt und weiterhin erwerbstätig bleibt, ist mit erheblichen Anstrengungen konfrontiert – sowohl zeitlich als auch emotional.

Text: Anne Wehrmann
Fotos: Jonas Ginter
1. Mai 2024

Mittwochs ist Pflegetag für Sibylle Albrecht. „Meine Kollegen sagen dann manchmal: Ah, du hast wieder deinen freien Tag“, berichtet sie. „Dann antworte ich: Nein, ich habe nicht frei. Ich pflege meine Mutter.“ Seit ihre 86-jährige Mutter Pflegegrad 2 hat und hilfsbedürftig ist, kümmert sich Albrecht um alles, was zu erledigen ist. Sie kauft ein, besorgt Rezepte, stellt Tabletten, organisiert Hilfsmittel, kümmert sich um das seelische und körperliche Wohl – und ist einfach da, wenn sie gebraucht wird. Bei Bedarf auch an allen anderen Tagen in der Woche. „Ich bin immer die erste Ansprech­person und habe mein Telefon permanent im Blick“, sagt die 60-­Jährige. Ständige Begleitung ist dabei die Sorge, dass etwas passieren könnte. „Wenn ich meine Mutter telefonisch nicht er­­reichen kann, fahre ich hin. Das ist immer ein Auf und Ab, auch mit den Gefühlen – und manchmal nehme ich das dann auch mit zur Arbeit.“

Als gelernte Krankenschwester mit einer engen Bindung zu ihrer Mutter war für Sibylle Albrecht von Anfang an klar, dass sie die Pflege selbst übernehmen will und auf einen ambulanten Pflegedienst verzichtet, solange das möglich ist. Seit ein paar Jahren arbeitet sie als Quereinsteigerin in der Verwaltung der Arbeitnehmerkammer, wo sie ihre ursprüngliche Vollzeitstelle auf 30 Stunden reduziert hat. „Anders wäre das nicht machbar“, sagt sie. Wenn es bei ihrer Mutter einen Notfall gebe, könne sie sofort losfahren: „Da wirken der Arbeitgeber und meine Kollegen wirklich unterstützend. Wenn das nicht wäre, müsste ich die Pflege anders organisieren.“ Trotz der Freiräume, die sie bei der Arbeit hat, nimmt sie die Pflege ihrer Mutter durchaus auch als Belastung wahr. „Man gibt da ja ganz viel und fühlt sich verantwortlich“, erläutert sie. „Feierabend hat man bei diesem Thema nie, aber ich mache das gern.“

Unterstützungsangebote ausbauen

Etwa jede achte abhängig beschäftigte Frau und jeder elfte abhängig beschäftigte Mann betreut pflegebedürftige Angehörige: Das geht aus einer aktuellen Arbeitszeitbefragung der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BauA) hervor. „Angesichts der starken emotionalen und zeitlichen Beanspruchung durch die Pflege hat ungefähr ein Drittel der Hauptpflegepersonen im erwerbsfähigen Alter ihre Arbeitszeit verringert“, berichtet Kai Huter, Referentin für Arbeitsschutz- und Gesundheitspolitik bei der Arbeitnehmerkammer. „Einige steigen auch vorübergehend ganz aus dem Erwerbsleben aus.“ Dabei reduzieren Frauen häufiger die Stunden, um alles unter einen Hut zu bekommen, während männliche Pflegende verstärkt externe Hilfe in Anspruch nehmen. „Wir brauchen in den Betrieben flexiblere Angebote für pflegende Angehörige, um Erwerbs- und Sorgearbeit besser mitein­ander in Einklang zu bringen“, fordert Huter und nennt flexible Arbeitszeiten, flexible Arbeitszeitkonten und groß­zügige Homeoffice-­Regelungen als mögliche Beispiele.

„Gleichzeitig sollten analog zum Elterngeld auch in Pflegezeiten Lohneinbußen zumindest in Teilen kompensiert werden.“
Kai Huter

Die aktuelle gesetzliche Lage zum Thema (siehe Info-Kasten) ist nach Aussage der Referentin unübersichtlich und schwer verständlich. „Darum wäre es wichtig, alle Regelungen in einem einzigen Gesetz zusammenzuführen und zu vereinfachen“, macht sie ­deutlich.

„Gleichzeitig sollten ­analog zum Elterngeld auch in Pflege­zeiten Lohneinbußen zumindest in Teilen kompensiert werden, um pflegende Angehörige zu entlasten.“ Darüber ­hinaus gelte es Schutzbestimmungen zur Rückkehr an den Arbeitsplatz weiter zu verbessern. Vor allem bräuchten berufstätige pflegende Angehörige allerdings ausreichend externe Unterstützungsmöglichkeiten: „Nur so lassen sich Verdienstausfälle und insbesondere Phasen des Komplettausstiegs vermeiden, durch die gerade für Frauen langfristig das Verarmungsrisiko steigt“, betont Huter. „Angebote der ambulanten und der stationären Pflege, vor allem auch der Kurzzeitpflege, müssen darum dringend ausgebaut werden.“

„Wir brauchen in den Betrieben flexiblere Angebote für pflegende Angehörige, um Erwerbs- und Sorgearbeit besser miteinander in Einklang zu bringen.“
Kai Huter

Allerdings: Der Landespflegebericht Bremen 2023 zeigt, dass das Gegenteil der Fall ist. Demnach ist die Zahl der Pflegebedürftigen im Land Bremen seit 2015 deutlich gestiegen, während die Kapazitäten der pflegerischen Angebote kaum gewachsen sind. „Daraus resultiert in den meisten Bereichen ein Rückgang des Versorgungsgrads“, heißt es in dem Bericht. Eine Entwicklung, die in die völlig falsche Richtung geht, ist Kai Huter überzeugt. Dabei verweist sie auf eine aktuelle Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), aus der im Vergleich mit anderen europäischen Ländern hervorgeht: Je mehr ein Land in sein formelles Pflege­system investiert, umso kleiner ist der Gender Care Gap – also der Unterschied zwischen den Geschlechtern in der informellen Pflege. „Das zeigt: Ein starker Wohlfahrtsstaat mit hohen Ausgaben für formelle Pflegeangebote kann geschlechtsspezifische Ungleichheiten bei der Pflege von Angehörigen erkennbar abmildern“, macht Huter deutlich.

Pflegestützpunkt bietet Orientierung

Auch Jörn Behrens stellt in der täglichen Praxis fest, dass sich deutlich mehr Frauen als Männer um die Pflege von Angehörigen kümmern. „Es sind oft Töchter und Schwiegertöchter, die da eingebunden sind“, berichtet der Berater des Pflegestützpunkts Land Bremen. Gerade von berufstätigen Pflegen­den bekommt er immer wieder zu hören, wie anstrengend die Doppelbelastung aus Erwerbstätigkeit und Sorgearbeit ist. „Es ist ja nicht nur das Organisatorische, was da geregelt werden muss“, erläutert er. „Wenn ein nahestehender Mensch plötzlich pflegebedürftig ist und Hilfe braucht, dann ist das auch eine große psychische Belastung – vor allem dann, wenn auch kognitive Einschränkungen wie eine Demenz damit verbunden sind.“ Viele Angehörige ­würden sich dann selbst erst einmal hilflos fühlen und nicht weiterwissen.

„Wenn ein nahestehender Mensch plötzlich pflegebedürftig ist und Hilfe braucht, dann ist das auch eine große psychische Belastung.“
Jörn Behrens, Berater des Pflegestützpunkts

Wer in einer solchen Situation ist und Unter­stützung benötigt, kann sich an einen der sechs landesweiten Standorte des Pflege­stützpunkts wenden. Kosten­los und neutral bieten die Beraterinnen und ­Berater dort umfassende Orientierung und bündeln relevante Informationen. „Wir klären darüber auf, welche Hilfsmöglich­keiten es gibt, und unterstützen bei Bedarf auch beim Ausfüllen von
Anträgen“, sagt Behrens. „Und wir ­weisen auf Möglichkeiten der Entlastung hin, zum Beispiel durch ­ambulante Pflege­dienste, Tages­­­­pflege oder Verhinderungspflege.“ ­Häufig sei allerdings das ­Problem, dass die zu Pflegen­den keine Hilfe von Fremden an­­nehmen wollten. „Da helfen dann im Zweifel nur klare Ansagen“, betont der Pflegeberater. „Es nützt ja nichts, wenn die Pflegeperson komplett über ihre Grenzen geht und am Ende zusammenbricht.“ Insgesamt brauche es aus seiner Sicht mehr gezielte Beratungs­angebote: „Am besten auch in den Be­­trieben selbst – dann hätten die Betroffenen direkt bei der Arbeit eine Anlaufstelle und die nötige Unterstützung.“

„Es sollte mehr Wertschätzung geben“

Susanne Schulz teilt sich die Pflege ihrer Eltern mit ihrer Schwester und sagt, dass es ohne die Unterstützung ihres Arbeitgebers nicht gehen würde. Sie hat eine 40-Stunden-­Stelle als Sekretärin in einem Steuerbüro und ist faktisch von 7.30 Uhr bis 17 Uhr im Büro. „Aber mein Arbeitgeber hat viel Verständnis für meine Situation“, erzählt sie. „Wenn etwas ist, kann ich einfach losfahren.“ Ihr Vater hat Pflegegrad 2, ihre Mutter seit einem Schlaganfall Pflegegrad 4. Und auch, wenn sie anfangs Hemmungen gehabt habe, ihre Mutter zu waschen: „Man gewöhnt sich daran. Und ich empfinde es als Geschenk, wenn meine Mutter sich wohlfühlt.“ Ihre Eltern hätten ihr immer viel gegeben: „Jetzt ist es für mich selbst­verständlich, dass ich etwas zurückgebe.“

Und doch merkt auch Susanne Schulz, dass ihr ein langer Tag in den Knochen steckt, wenn sie zwei- oder dreimal pro Woche erst gegen 21.30 Uhr nach Hause kommt. „Es sind tausend Sachen, die man braucht und wissen muss, das macht man nicht so nebenbei“, sagt sie. „Das leiste ich alles noch hintendran, da würde ich mir schon ein bisschen mehr Anerkennung wünschen.“ Unter anderem sollte die finanzielle Situation der privat Pflegenden mehr gesehen werden, meint sie. „Ich finde es zum Beispiel ungerecht, dass pflegende Angehörige nur dann Rentenansprüche für ihre Pflegearbeit erwerben, wenn sie parallel nicht mehr als 30 Stunden pro Woche abhängig beschäftigt sind. Es ist keine Selbstverständlichkeit, was viele für ihre Eltern tun. Dafür sollte es mehr Wert­schätzung geben.“

Susanne Schulz sitzt auf der Lehne eines Sessels, in dem ihre Mutter sitzt und hält ihre Hand.

Susanne Schulz:

"Es sind tausend Sachen, die man braucht und wissen muss, das macht man nicht so nebenbei.“

Laut Pflegezeitgesetz haben Beschäftigte das Recht auf eine Freistellung von zehn Tagen, um in akuten Fällen eine sofortige pflegerische Versorgung des betroffenen Angehörigen sicherzustellen oder eine bedarfsgerechte Pflege zu organisieren. Für diese Freistellung lässt sich bei der zuständigen Pflegekasse eine Lohnersatzleistung (das Pflegeunterstützungsgeld) beantragen, sofern eine Kompensation des Verdienstausfalls nicht arbeitsvertraglich, tariflich oder betrieblich gewährleistet ist. Bei längeren Pflegezeiten ist eine vollständige oder teilweise Freistellung vom Arbeitsplatz ohne Entgeltfortzahlung für die Dauer von bis zu sechs Monaten möglich. Einen durchsetzbaren Rechtsanspruch darauf gibt es allerdings nur in Betrieben mit mehr als 15 Beschäftigten. Das Familienpflegezeitgesetz ermöglicht für die Pflege in häuslicher Umgebung eine Arbeitszeitreduzierung auf bis zu 15 Stunden für maximal 24 Monate. Hier besteht der Rechtsanspruch nur in Betrieben mit mehr als 25 Beschäftigten. In kleineren Unternehmen können auf freiwilliger Ebene gleichlautende Vereinbarungen getroffen werden. Weitere Möglichkeiten der Arbeitszeitreduzierung bietet das Teilzeit-und Befristungsgesetz.

Beratung und Unterstützung zum Thema Pflege von Angehörigen

Rechtsberatung der ­Arbeitnehmerkammer
0421 . 3 63 01-11 (montags bis donnerstags von 9 bis 16 Uhr, freitags von 9 bis 12 Uhr)

Pflegestützpunkt Land Bremen (sechs Standorte in Bremen und Bremer­haven)
 www.bremen-pflegestuetzpunkt.de

Sibylle Albrecht:

"Feierabend hat man bei diesem Thema nie, aber ich mache das gern.“

Kommentar von Kai Huter, Referentin für Arbeitsschutz- und Gesundheitspolitik AKB_Icon_Comment2

Pflegende Angehörige brauchen Unterstützung!

Die Zahl der Pflegebedürftigen steigt, die der Beschäftigten in der Pflege aber nicht in der gleichen Weise. Der Landespflegebericht bestätigt, was viele pflegende Angehörige im Alltag spüren: Es wird schwieriger, dringend benötigte professionelle Unterstützung oder Pflegeheimplätze zu finden. Besonders prekär ist es im Bereich der Kurzzeitpflege. Für berufstätige pflegende Angehörige wird die Situation immer schwieriger – hier muss dringend gegengesteuert werden. Wer seine Arbeitszeit reduzieren muss, weil keine professionelle Unterstützung zu finden ist, hinterlässt Lücken auf dem Arbeitsmarkt.

Die Pflegeinfrastruktur muss ausgebaut, eine weitere Verschlechterung aufgehalten werden. Die Verbesserung der Arbeitsbedingungen in der Langzeitpflege und die Reduktion von Ausbildungsabbrüchen sind essenzielle Ansatzpunkte, um die benötigten Pflegekräfte im Beruf zu halten.

Gleichzeitig müssen pflegende Angehörige, die ihre Arbeitszeit reduzieren, finanziell und rechtlich besser abgesichert werden. Auch die Unternehmen sind gefragt, ihren Beschäftigten durch flexible Regelungen unterstützend entgegenzukommen.