8. Mai 2024
Fragen: Jan Zier
Foto: iStock
Laut einer neuen Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) wird der weitaus größte Teil der Pflegebedürftigen zuhause gepflegt – ganz überwiegend von Frauen. Was hat das für Folgen?
Kai Huter: Etwa jede achte Arbeitnehmerin, aber nur jeder elfte Arbeitnehmer betreut pflegebedürftige Angehörige. Angesichts der starken emotionalen und zeitlichen Beanspruchung verringern viele die eigene Arbeitszeit, manche steigen vorübergehend ganz aus dem Job aus. Dabei reduzieren Frauen häufiger die Stunden, um alles unter einen Hut zu bekommen, während Männer verstärkt Hilfe von außen in Anspruch nehmen.
Die DIW-Studie zeigt: Je mehr ein Land in sein formelles Pflegesystem investiert, etwa in Alten- und Pflegeheime, desto kleiner ist auch der Gender Care Gap – also der Unterschied zwischen den Geschlechtern in der informellen Pflege. Die Schweiz und Schweden schneiden hier besonders gut ab, Deutschland belegt einen Platz im Mittelfeld, ganz am Ende stehen Griechenland und Kroatien. Ein starker Wohlfahrtsstaat kann geschlechtsspezifische Benachteiligung also erkennbar abmildern.
Für berufstätige pflegende Angehörige wird die Situation hierzulande derzeit aber immer schwieriger: Die Zahl der Pflegebedürftigen steigt, die der Beschäftigten in der Pflege aber nicht in der gleichen Weise. Die Versorgung mit stationären Heim- und vor allem Kurzzeitpflegeplätzen verschlechtert sich seit Jahren. Es wird schwieriger, dringend benötigte professionelle Unterstützung zu finden. Wer seine Arbeitszeit deshalb reduzieren muss, hinterlässt Lücken auf dem Arbeitsmarkt. Gerade für Frauen entsteht so langfristig ein Verarmungsrisiko.
„Pflegende Angehörige brauchen mehr Unterstützung“
Dr. Kai Huter, Referentin für Arbeitsschutz- und Gesundheitspolitik
Was muss sich bei der Pflege also ändern?
Pflegende Angehörige brauchen mehr Unterstützung, dazu muss vor allem die professionelle Pflegeinfrastruktur ausgebaut werden. Mit mehr Kinderbetreuung, aber auch mehr ambulanter und stationärer Pflege können gerade Frauen entlastet und anhaltende Ungleichheiten auf dem Arbeitsmarkt bekämpft werden. Pflegekräfte steigen häufig aus dem Beruf aus, weil sie mit den Arbeitsbedingungen unzufrieden sind. Diese zu verbessern ist daher eine der wichtigsten Maßnahmen gegen den Fachkräftemangel.
Auch die Unternehmen sind gefragt, ihren Beschäftigten unterstützend entgegenzukommen. Wir brauchen Angebote in den Betrieben, um Erwerbs- und Sorgearbeit besser miteinander in Einklang zu bringen – variable Arbeitszeiten, flexible Arbeitszeitkonten und großzügige Homeoffice-Regelungen sind hilfreich. Und auch finanziell und rechtlich sollten pflegende Angehörige noch besser abgesichert werden.
Brauchen wir angesichts des Gender Care Gaps mehr formelle Pflege?
Magnus Brosig: Es dürfte kaum möglich sein, alle Pflegebedürftigen ausschließlich professionell und dabei womöglich sogar stationär im Heim versorgen zu lassen. Viele von ihnen wollen das auch gar nicht. Aber weitere Schritte hin zu mehr formeller Pflege zu gehen – dazu gehört natürlich auch ein gutes Netz ambulanter Dienste – muss auch im Sinne der Geschlechtergleichheit auf dem Arbeitsmarkt unser Ziel sein. Der Blick auf andere Länder zeigt: Das ist zu schaffen, zumindest für Menschen in höheren Pflegegraden. Sie haben einen so intensiven Betreuungsbedarf, dass für die Angehörigen echte Erwerbstätigkeit nebenher praktisch unmöglich wird.
Klar ist allerdings auch, dass mehr professionelle Pflege nicht zu Mehrbelastungen für die dort arbeitenden Beschäftigten führen darf. Das professionelle System, das ohnehin schon jetzt teurer werden muss, weil wir ja mehr und besser bezahltes Personal brauchen, wird angesichts des demografischen Wandels noch einmal deutlich teurer. Zusätzliche Kosten ergeben sich, wenn die Erwerbschancen pflegender Angehöriger verbessert werden sollen. Wenn man aber nichts an den Strukturen der Pflegeversicherung ändert, werden nicht nur die Pflegebedürftigen und ihre Angehörigen finanziell überfordert. Auch die Belastungen für kommunale Sozialhilfeträger würden weiter steigen. Die Kosten müssen also angemessener verteilt werden.
„Die Kosten müssen angemessener verteilt werden“
Dr. Magnus Brosig, Referent für Sozialversicherungs- und Steuerpolitik
Was muss aus Sicht der Arbeitnehmerkammer konkret passieren?
Aus Gründen der Gerechtigkeit, Effizienz und Finanzierbarkeit brauchen wir eine Bürgerpflegeversicherung, in die alle Bürger/-innen einzahlen und für die Beiträge auf alle Einkommensarten anfallen. Diese sollte dann schrittweise zu einer Vollversicherung für die professionelle Pflege ausgebaut werden.
Ein Zwischenschritt könnte so aussehen: Für einen gewissen Zeitraum muss jeden Monat ein fixer Eigenanteil an den Pflegekosten gezahlt werden. Die Pflegeversicherung übernimmt dann den Rest und nach Ablauf der Frist alle Kosten. Die Kosten für die Pflege wären damit für einen einzelnen Pflegefall einigermaßen kalkulierbar, sodass individuell ausreichende Vorsorge möglich wird. Die Kosten für ein Heim hingegen können auch zukünftig nicht Aufgabe der Pflegeversicherung sein. Wenn man so eine Bürgerversicherung für die Langzeitpflege umsetzt, hätte man bei dem bisherigen Beitragssatz mehr Geld für bessere Leistungen.
- Wir in der Pflege (Broschüre zum Download als PDF)
Informationen für Beschäftigte in der Pflege. Tipps von A-Z - Arbeiten und Angehörige pflegen
Doppelbelastung ohne Feierabend - Schwerpunkt der BAM, Ausgabe Mai/Juni 2024
- Beratung und Unterstützung zum Thema Pflege von Angehörigen
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