Hat unsere Demokratie ein Problem, weil Teile der Wählerschaft den Parteien und Parlamenten weniger vertrauen als früher?
Es sind vor allem die unteren Einkommensgruppen, in denen das Vertrauen jetzt schon sehr lange sehr niedrig ist – und in denen es immer noch weiter sinkt. Vielleicht ist für sie die Entscheidung, nicht mehr mitzumachen, sogar ganz rational: Ihre Stimme zählt weniger als andere, obwohl die Demokratie verspricht, dass alle Menschen gleich viel wert sind. In den mittleren und oberen Einkommensgruppen gibt es zwar Schwankungen im Vertrauen, etwa nach Korruptionsskandalen – da sinkt es sehr schnell, erholt sich dann aber auch wieder. Bei den Geringverdienenden ist das Niveau aber immer ziemlich niedrig, unabhängig von aktuellen Ereignissen. Ein geringeres Vertrauen schadet der Demokratie zwar nicht unbedingt, Misstrauen kann auch ein Zeichen dafür sein, dass die Leute interessiert sind und das politische System kontrollieren. In den unteren Einkommensgruppen geht es aber vor allem um fehlende Repräsentation. Wir sehen ja auch, dass Arbeiter, Putz- oder Pflegekräfte nicht wirklich in den Parlamenten vertreten sind.
Was kann man ihrer Ansicht nach dagegen tun?
Es geht vor allem darum, die Menschen, die derzeit ausgeschlossen sind, wieder am politischen Prozess mitwirken zu lassen. Demokratie bedeutet ja auch, dass wir die Regeln unseres Zusammenlebens gemeinsam bestimmen. Das heißt, es bleibt auch den Parteien nicht erspart, wieder mehr auf die Menschen zuzugehen. Es gibt den Vorschlag, dass die Listen der Parteien für Arbeiterinnen und Arbeiter eigene Quoten haben sollten – so wie es ja auch Frauenquoten gibt. Darüber kann man nachdenken. Es geht darum, die Distanz der unteren Einkommensgruppen zur repräsentativen Demokratie zu überwinden. Dabei reicht es nicht aus, immer wieder neue direkte Partizipationsmöglichkeiten zu schaffen. Denn hier zeigt sich: Da gehen wieder vor allem diejenigen hin, die auch die anderen Chancen zur Teilhabe schon nutzen.
Wie kann Mitbestimmung die Demokratie stärken?
Am einfachsten ist es ja, die Demokratie dort zu stärken, wo die Menschen ohnehin sind. Und die meiste Zeit des Tages sind sie in der Regel bei der Arbeit. In den Siebziger- und Achtzigerjahren war die Demokratisierung der Wirtschaft noch ein großes Thema, heute ist das etwas in Vergessenheit geraten. Letzten Endes ist die Frage: Wer kann bei der Arbeit mitbestimmen? Da sehen wir wieder: Die unteren Einkommensgruppen sind weniger gewerkschaftlich vertreten und haben weniger Möglichkeiten, zumindest ihre Meinung zu sagen, wenn Entscheidungen im Unternehmen getroffen werden. Das Erleben von Demokratie und Mitbestimmung im Alltag fehlt in den unteren Statusgruppen sehr viel stärker als in anderen. Da muss man ansetzen: Wie können wir Demokratie stärker in den Alltag bringen? Gerade für Leute, die eben nicht die Zeit und Energie haben, sich nach Feierabend noch zu engagieren. Auch für Deutschland zeigen Studien: Die Demokratie im Betrieb kann gerade bei unteren Einkommensgruppen einen deutlichen Effekt erzielen. Wenn diese Menschen positive Erfahrungen im Betrieb machen, wenn sie das Gefühl haben, da etwas bewirken zu können mit ihrer Stimme, dann sind sie auch eher bereit, sich an anderen Wahlen zu beteiligen.
Wissen die Betriebsräte um ihre Bedeutung für Wahlen und die Demokratie?
Meine Erfahrung ist: Sie haben oftmals eine Vermutung. Wenn man ihnen dann sagt, dass Betriebsratsarbeit sehr wertvolle Demokratiearbeit ist, sitzen sie auch gleich aufrechter da und freuen sich über die Anerkennung. Sie sind ja häufig eher Prügelknaben und haben eine oft undankbare und schwierige Aufgabe. Aber wenn man die Belegschaft mitnimmt und ihr das Gefühl gibt, dass ihre Meinung, ihre Stimme zählt, dann hat das sehr starke Auswirkungen auch auf die Demokratie außerhalb des Betriebs.
Datum: 5. August 2024
Grafik: Bremische Bürgerschaft
Foto: Foresight-Institut, Wien
Fragen: Jan Zier