Text: Anne-Katrin-Wehrmann
Foto: Kay Miachalak
1. Juli 2024
70 bis 80 Pakete lassen sich an einem Arbeitstag ausliefern, ohne in Stress zu geraten: Das sind die Erfahrungswerte von Ahmed Al-Mansouri (Name geändert). Als der gebürtige Iraker vor einiger Zeit begann, Pakete für einen bekannten Online-Shop zu verteilen, erzielte er anfangs noch einen Stundenlohn von 13 Euro. Doch dann wurde die Arbeitsbelastung immer größer –
bis er schließlich rund 200 Pakete pro Tag in sein Lieferfahrzeug geladen bekam, die er über die Dörfer rund um Bremen zu verteilen hatte. „Ob ich das innerhalb der vereinbarten Arbeitszeit überhaupt schaffen konnte, hat meine Vorgesetzten nicht interessiert“, erzählt der 49-Jährige. „Ich musste fahren, bis ich fertig war. Dabei haben Stau oder Glatteis keine Rolle gespielt.“ Häufig habe er 13 Stunden am Stück arbeiten müssen, um alles zu schaffen. Und das mit zum Teil mangelhaften Fahrzeugen, schlechter Arbeitskleidung und Anfeindungen durch die Empfänger, die sich immer wieder beschwerten, wenn er im Dunkeln ihre Grundstücke betrat.
„Wie kann es sein, dass es hier solche Arbeitsbedingungen gibt?“
Ahmed Al-Mansouri (Name geändert)
Dann kam der Tag, an dem Al-Mansouri kapitulieren musste. 275 Pakete, 203 Stopps: So stand es auf seinem Einsatzplan. Bis 19 Uhr hatte er erst die Hälfte der Stopps absolviert. „Da habe ich meinen Chef angerufen und gesagt: Ich schaffe das nicht, jemand muss kommen und mir ein paar Pakete abnehmen.“ Das sei nicht möglich, wurde ihm geantwortet, und so fuhr er mit den nicht ausgelieferten Paketen zum Verteilzentrum zurück. Am nächsten Tag bekam er die Kündigung. „Ich lebe seit acht Jahren in Deutschland und habe immer gearbeitet, meine Familie sehe ich kaum“, sagt er. „Wie kann es sein, dass es hier solche Arbeitsbedingungen gibt?“
„Ausbeutung ist die Regel“
Eine absolut berechtigte Frage. Zumal Ahmed Al-Mansouri bei Weitem nicht der einzige Paketzusteller ist, der von Missständen in der Branche berichtet. Überlange Arbeitstage, fehlende Pausenzeiten, Lohndumping und -betrug, übermäßiger Arbeitsdruck, nicht bezahlte Überstunden, Betrug bei den Sozialabgaben, fristlose Kündigungen: „Vor allem bei den Subunternehmen herrschen größtenteils katastrophale Arbeitsbedingungen, da ist Ausbeutung die Regel und nicht die Ausnahme“, sagt Lennart Härtlein, Referent für Wirtschaftspolitik bei der Arbeitnehmerkammer. „Das ist ein strukturelles Problem, für das die Bundesregierung dringend eine Lösung vorlegen muss.“ Seit Jahren steigen die Sendungsvolumen in der Express- und Paketbranche kontinuierlich, mit der Pandemie hat die Zahl der Online-Bestellungen neue Höchstwerte erreicht. Geschäftsmodell der großen Lieferfirmen ist es, möglichst viele Sendungen in möglichst kurzer Zeit zu möglichst günstigen Preisen zuzustellen. Um das zu erreichen, lagern sie ihr Geschäftsrisiko und den Wettbewerbsdruck einfach aus.
„Vor allem bei den Subunternehmen herrschen größtenteils katastrophale Arbeitsbedingungen.“
Lennart Härtlein, Referent für Wirtschaftspolitik bei der Arbeitnehmerkammer
Und da kommen die Subunternehmen ins Spiel, die den Preisdruck wiederum an ihre Angestellten weitergeben. „Subunternehmen sind mit dem Anwachsen der Paketmengen wie Pilze aus dem Boden geschossen“, berichtet Härtlein. Rund die Hälfte der bundesweit 90.000 Paketzusteller sei bei solchen Betrieben beschäftigt. In der Regel zeichneten die sich dadurch aus, dass sie nicht tarifgebunden seien und praktisch nie Betriebsräte hätten. „Die großen Player achten gezielt darauf, dass die Subunternehmen nicht zu groß werden, weil sie dann leichter zu kontrollieren sind.“ Leidtragende des Systems seien die Zusteller – häufig Migranten, die nicht gut Deutsch sprechen und zumeist ihre Rechte nicht kennen. „Besonders schlimm ist, dass oft auch ihr Aufenthaltsstatus an der Arbeit hängt“, erläutert Härtlein. „Diese Menschen befinden sich in einem krassen Abhängigkeitsverhältnis zu ihren Arbeitgebern und sind darum kaum in der Lage, sich gegen Unrecht zu wehren.“
Verdi fordert gesetzliche Regelung
Fair zugestellt statt ausgeliefert: So lautet der Titel einer Kampagne, die Verdi schon vor Jahren gestartet hat, um für bessere Arbeitsbedingungen in der Kurier-Express-Paket-Branche (KEP) zu sorgen. Zu den Kernforderungen der Gewerkschaft gehört es, Subunternehmen in der Branche gesetzlich zu verbieten, eine Gewichtsbegrenzung von 20 Kilogramm für Paketsendungen im sogenannten Ein-Mann-Handling einzuführen sowie wirksame Kontrollen durch eine Stärkung des Zolls sicherzustellen. „In der KEP-Branche haben Ausbeutung und prekäre Beschäftigung inzwischen ein unerträgliches Maß angenommen“, macht die Bremer Gewerkschaftssekretärin Tanja Post deutlich.
„In der KEP-Branche haben Ausbeutung und prekäre Beschäftigung inzwischen ein unerträgliches Maß angenommen.“
Tanja Post, Bremer Gewerkschaftssekretärin
Um möglichst wenig für die geleistete Arbeit zu bezahlen, würden fast alle Paketdienstleister Subunternehmen beauftragen. Diese nutzten eine Vielfalt an legalen und illegalen Umgehungsmöglichkeiten der geltenden Arbeitsschutzgesetze, um möglichst hohe oder überhaupt Gewinne aus dem Auftrag zu ziehen. „Bei offensichtlichen Problemen erklärt sich das Paketunternehmen für nicht zuständig, das Subunternehmen ist oft nicht mehr greifbar. Dieses System der organisierten Verantwortungslosigkeit muss ein Ende haben.“
Mitte Juni hat der Bundestag zwar eine Novellierung des Postgesetzes verabschiedet und darin auch die Bedingungen in der KEP-Branche mit aufgegriffen. Laut Verdi ist die Reform allerdings nicht geeignet, für nachhaltige Verbesserungen zu sorgen. Rückenwind kommt dagegen aus dem Bundesrat, der in einer Stellungnahme zum Gesetz zentrale Forderungen der Gewerkschaft unterstützt. „Aus unserer Sicht ist es nicht sehr glücklich, das Thema Arbeitsbedingungen im Postgesetz zu adressieren“, betont Tanja Post. „Da werden Dinge miteinander vermischt, die nicht zusammengehören.“ Vielmehr brauche es hierfür ein eigenes Gesetz analog zur Fleischindustrie, wo der Einsatz von Fremdpersonal seit 2020 grundsätzlich verboten sei. „Wir geben die Hoffnung nicht auf, dass es eine vergleichbare Regelung auch für die KEP-Branche geben wird“, meint die Gewerkschaftssekretärin. Dem pflichtet Kammer-Referent Härtlein bei: „Auch aus Sicht der Arbeitnehmerkammer muss der Einsatz von Subunternehmen und Leiharbeit in der Paketbranche dringend verboten werden.“
Unterdessen ist die Geschichte von Ahmed Al-Mansouri noch halbwegs gut ausgegangen. Der Iraker wandte sich Hilfe suchend an die Arbeitnehmerkammer, klagte nach der Rechtsberatung die nicht bezahlten Überstunden vor dem Arbeitsgericht ein und einigte sich schließlich mit seinem Arbeitgeber auf eine Lohnnachzahlung.