Porf. Gäbler bei einer Pressekonferenz

„Die gesellschaftliche Spaltung setzt sich medial fort“

Bernd Gäbler über Armut im Fernsehen

Interview: Anna Zacharias
30. September 2022

Prof. Bernd Gäbler (Medienwissenschaftler an der FHM Bielefeld und früherer Direktor des Grimme-Instituts) hat für die Otto Brenner Stiftung ein Diskussionspapier „Armutszeugnis. Wie das Fernsehen die Unterschichten vorführt“ verfasst.

Sie haben sich mit der Darstellung von Armut im Fernsehen befasst, insbesondere mit RTL-II-Formaten wie "Hartz und herzlich" oder "Armes Deutschland – Stempeln oder abrackern". Was ist das Prinzip dieser Sendungen?

Unter dem Deckmantel von Empathie und Mitgefühl werden in Armut lebende Protagonisten, die als typisch für den jeweiligen sozialen Brennpunkt vorgestellt werden, hinterrücks mit einer Fülle abwertender Klischees vorgeführt und mit gemeinen Kommentaren beschämt. Das alles lief in gleicher Weise schon 2014 in Großbritannien, wurde dort aber von Labour-Politikern und selbst vom konservativen Premierminister scharf kritisiert. Bei uns dagegen herrscht Ignoranz.

Worin liegt die Faszination an Armut als Unterhaltungsprogramm?

Wer zuschaut, geht zu den gezeigten Protagonisten eine parasoziale Beziehung ein, vergleicht sich, empfindet Sympathie oder fühlt sich abgestoßen. Oft wird ein Abgrund vorgeführt, in den man selbst lieber nicht geraten will. Die Zuschauer sind dann froh, dass es ihnen nicht ganz so schlecht geht oder sie sich besser benehmen.

Diese Shows zeigen Lebensverhältnisse, von denen einige sonst vielleicht gar nichts wüssten – ist das nicht auch positiv zu bewerten?

Ja, das behaupten die Macher. Es würde sogar stimmen, würden hier die Zuschauer durch eine ihnen unbekannte Realität herausgefordert. Dem ist aber nicht so. Diese Formate sind frei von Überraschungen und ausschließlich marktkonform: Bedient werden nur die bereits vorhandenen Erwartungen des Publikums.

Die Berichterstattung über Armut habe derzeit keine Konjunktur, sagen Sie. Was vermissen Sie in den Medien, und gibt es auch positive Beispiele?

Vielleicht ändert sich das gerade. Bisher aber wird in Dokumentationen wie im Spielfilm Armut meist als das ganz Andere, das Fremde dargestellt. Es gibt in Deutschland einfach keine Tradition des sozialen Realismus wie in England (Ken Loach) oder in Belgien (die Brüder Dardenne). Da hilft dann auch guter Wille meist nicht weiter. Aber es gibt Ausnahmen wie der Spielfilm „Sterne über uns“ oder die dokumentarischen Arbeiten von Julia Friedrichs und Eva Müller. Das Problem ist: Die tatsächliche gesellschaftliche Spaltung setzt sich medial fort. Wer ganz unten ist, nutzt auch Medien anders. Da nutzt die ein oder andere gute Sozialreportage letztlich wenig. 

Wie würden Sie die Darstellung prekärer Verhältnisse in den Bremer Lokalmedien bewerten?

Da kann ich keine fundierte Analyse liefern, sondern nur Eindrücke: Im Fernsehen von Radio Bremen gibt es immer wieder mal ordentliche Sozial-Reportagen, aber vermutlich müsste man noch stärker über eine neue Formensprache nachdenken. Im „Weser-Kurier“ wird viel Hilfsbereitschaft für gesellschaftlichen Zusammenhalt gezeigt. Das ist löblich. Die Perspektive ist oft aber die Integrationsabsicht von oben, nicht der ungeschminkte Blick nach ganz unten.

Aktuell ist aufgrund der finanziellen Mehrbelastungen eine Verschärfung der Situation für viele zu erwarten. Wie sollten die Medien aus Ihrer Sicht darauf eingehen?

Zeigen und sagen, was ist: Wahrhaftig, nicht beschönigend, aber immer mit Anstand. Manchmal muss man auch als Journalist Menschen davor schützen, medial verwertet zu werden. Und gerade beim Thema Armut braucht man etwas, was leider sehr oft fehlt: Viel Zeit und sehr viel Geduld.