Interview: Anna Zacharias
31. August 2022
Julia Friese ist Kulturjournalistin, Kolumnistin und Schriftstellerin und lebt in Berlin. In ihrem Debütroman geht es um die Überreste der Nazi-Ideologie in der Erziehung.
Der Titel Ihres Romans „MTTR“ liest sich wie „Mutter“, steht aber tatsächlich für „Mean time to repair“ – Was bedeutet das?
Julia Friese: Da muss ich etwas ausholen. Ich kam auf die Idee, nachdem ich den Film „Lara“ von Jan-Ole Gerster gesehen hatte. Darin geht es um die Beziehung einer 60-jährigen Mutter zu ihrem Sohn. Zwischen ihnen herrscht eine bürokratische Kälte, niemand kann sich in den anderen einfühlen. Ich habe mich gefragt: Warum empfinde ich diese emotionale Unreife als so typisch deutsch? Danach habe ich mich mit dem Thema Erziehung befasst…
…und sind auf Methoden aus der Nazizeit gestoßen.
Damals wurde autoritär erzogen, allerdings – und das unterscheidet die nazistische, von der „nur“ autoritären Erziehung – mit besonderem Fokus auf Bindungslosigkeit. Schon Babys sollte beigebracht werden, ihre Bedürfnisse zu ignorieren. Es galt, das Schreien nicht zu beachten. Nach Uhrzeiten zu stillen. Beispielhaft sind Elternsätze wie: „Reiß dich zusammen“ oder „Erst die Arbeit, dann das Vergnügen“. Es ist eine Sprache, die auf das Funktionieren abzielt. Der Philologe Victor Klemperer schrieb, dass die nazistische Sprache eine besondere Vorliebe für Abkürzungen habe, wie HJ oder BDM. Abgekürzt werden Worte zwar platzsparend, aber dennoch sperrig. Technisiert. MTTR steht für „Mean time to repair“, also die mittlere Reparaturzeit nach dem Ausfall eines Systems. Wir befinden uns in andauernder Reparatur. Gleichzeitig liest man MTTR wie selbstverständlich als „Mutter“. Der Titel lädt also ein, genauer hinzuschauen: Was spricht eigentlich aus unserer Sprache, aus Sätzen, Wörtern, Abkürzungen, die uns so normal, so natürlich vorkommen?
Glauben Sie, dass diese Härte noch immer in der Erziehung steckt?
Wir befinden uns gerade in einer Zeitenwende. In einem Spalt, in dem viele noch mit einer Härte aufgewachsen sind, die sie nicht weitergeben wollen. Heute ist es modern, Kinder nicht zu erziehen – was an sich auch technisch klingt – sondern zu begleiten. Das Kind wird nicht mehr als Störfaktor in der Erwachsenenwelt angesehen, an die sich das Kind anzupassen hat. Sondern man richtet seine Elternwelt nach den Schwächsten, nach den Kindern aus.
Dafür werden die Generationen Y und Z aber auch von vielen als verweichlicht kritisiert.
Natürlich. Von Generationen, Menschen, die eben noch ganz anders „programmiert“ wurden. Die Art begleitende Erziehung geht schließlich gegen alles, was sie selbst gelernt haben. Ein „Stellt euch nicht so an, ihr Waschlappen!“ ist im Grunde eine Verteidigung der eigenen Eltern, und ein Schützen der eigenen Wunden, die man als solche lieber gar nicht geframt wissen will. Wäre ja schmerzhaft.
Ihre Protagonistin Teresa Borsig will eigentlich gar keine Kinder, wird dann aber doch schwanger.
Ja, sie weiß nicht, ob sie auf Dauer anders sein kann als ihre Prägung. Aber der Roman erzählt eine Mutterwerdung, ich verrate, glaube ich, also nicht zu viel, wenn ich sage, dass sie dann doch ein Kind bekommt.
Fällt die Entscheidung, Mutter zu werden, heute schwerer als früher?
Es gab lange Zeit weniger Wahlfreiheit, und überall da, wo man mehr Wahlmöglichkeiten hat, ist die Entscheidung schwieriger.
Geht es in Ihrem Roman um das Muttersein, oder geht es eigentlich um etwas ganz anderes?
Mutterwerdung, Schwangerschaft und Geburt sind die Kulisse, innerhalb derer erzählt wird. Der rote Faden, der den Text zusammenhält, ist aber die Frage: Wo zeigen sich die Überreste der autoritären und nazistischen Erziehung im Alltag, in der Arbeit, im Gesundheitssystem, und unter Freunden und Freundinnen?
Sie sagen, Kinderkriegen und Betreuung wird nicht als Stärke, nicht als harte Arbeit anerkannt – was müsste sich ändern?
Wenn ich mir Rezensionen zu „MTTR“ durchlese, lese ich häufig Formulierungen, wie im Text stecke eine Menge „Sprengstoff“, oder Teresa Borsig „kämpfe“. Begriffe, die Stärke vermitteln sollen, haben oft etwas Kriegerisches. In den Tod zu ziehen wird mit Stärke verbunden, aber Leben zu schenken nicht. „Der Text steckt voller Wehen“ – wäre sehr treffend, aber weiblich konnotierte Erfahrungen und Tätigkeiten werden weder in unserer Sprache noch in unserer Gesellschaft wertgeschätzt. Siehe Care-Arbeitende und Gesundheitspfleger*innen, die hart arbeiten, ohne besonders hart zu verdienen…
Spielt der Vater in Ihrem Roman eigentlich auch eine Rolle bei der Erziehung?
MTTR erzählt einen Matrjoschka-Aufbau: Jemand, der Zukunft in sich trägt, muss Vergangenheit bewältigen. Die Vaterrolle ist da durchaus mitgemeint. Der hat schließlich auch Eltern.