Rund ein Drittel der berufstätigen Mütter und Väter in Bremen haben Bedarf an zusätzlichen Betreuungszeiten für ihre Kinder, wie eine aktuelle Studie zeigt. Mit einer geringen Ausweitung der Kita-Öffnungszeiten ließe sich viel erreichen.
28. Dezember 2021
Text: Anne-Katrin Wehrmann
Foto: Jonas Ginter
Das Familienleben von Julia und Waldemar Letkemann und ihren zwei Kindern ist durchgetaktet und funktioniert nur mit guter Planung. Wesentliche Taktgeberin ist die Kita, in die der vierjährige Sohn und die zweijährige Tochter des Ehepaares gehen. Die Einrichtung in Schwachhausen ist von 8 bis 16 Uhr geöffnet.
Für die beiden im Schichtdienst tätigen Fluglotsen bedeutet das: Wenn Waldemar Letkemann die Kleinen morgens in die Kita bringt, ist seine Frau meistens schon bei der Arbeit. Wenn Julia Letkemann die beiden nachmittags wieder abholt, ist ihr Mann noch im Dienst. „An Tagen, an denen wir versetzt arbeiten, sehen meine Frau und ich uns bei der Arbeit – aber nicht privat“, sagt der 34-jährige Familienvater.
Sowohl er als auch seine 31-jährige Frau arbeiten aktuell in Elternteilzeit 26,5 Stunden pro Woche. Die früheste Schicht bei den Lotsen am Bremer Flughafen fängt um 5.40 Uhr an, die späteste geht von 18.30 bis 2 Uhr nachts – dazwischen gibt es je nach Flugaufkommen diverse Anfangszeiten. Ein- bis zweimal im Monat steht außerdem von 22 bis 6 Uhr Nachtschicht an.
Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf gestaltet sich für viele Eltern als tägliche Herausforderung – besonders wenn sie im Schichtdienst tätig sind.
In der Theorie arbeiten die beiden vier Tage am Stück und haben dann vier Tage frei. In der Praxis kommt es aber auch vor, dass fünf oder sechs Arbeitstage aufeinanderfolgen. „Unser Glück ist, dass wir einen familienfreundlichen Arbeitgeber und eine sehr zuvorkommende Dienstplanerin haben“, meint Julia Letkemann. Weil bei der Planung der Schichten ihre Wünsche berücksichtigt werden, geht es meistens auf, dass sie gleich eine der ersten Schichten bekommt. Ihr Mann fängt dann üblicherweise später an, nachdem er die Kinder weggebracht hat. „Wenn es gut läuft, kann ich danach noch mal eine Stunde nach Hause fahren, um im Haushalt etwas zu erledigen“, berichtet Waldemar Letkemann. Insgesamt lasse sich so alles gut organisieren.
Allerdings: „Es würde uns sehr helfen, wenn wir die Kinder an einzelnen Tagen flexibel auch mal zwei Stunden länger in der Kita lassen könnten. Wenn dort bis 17 oder 18 Uhr geöffnet wäre, würde das eine komplette Schicht abdecken und einer von uns könnte die beiden hinbringen und auch wieder abholen.“
An den Wochenenden arbeitet das Ehepaar nach Möglichkeit komplett versetzt oder versucht freizubekommen. In den seltenen Fällen, in denen das der Dienstplan nicht zulässt, reisen die mehrere Stunden entfernt lebenden Großeltern an, um auf die Kleinen aufzupassen. Dass die Kita keine Wochenendbetreuung anbiete, finde sie nicht schlimm, sagt Julia Letkemann. „Man merkt den Kindern an, dass sie samstags und sonntags platt sind“, erzählt sie. „Ich würde sie darum am Wochenende gar nicht dort hinbringen wollen. Außerdem genießen wir die gemeinsame Familienzeit, wir frühstücken dann ausgedehnt und machen Ausflüge. Auch deswegen haben wir die beiden gerne zu Hause.“
„Es würde uns sehr helfen, wenn wir die Kinder an einzelnen Tagen flexibel auch mal zwei Stunden länger in der Kita lassen könnten.“
Waldemar Letkemann und seine Frau Julia arbeiten im Schichtdienst als Fluglotsen
Schlusslicht Bremen
Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf gestaltet sich für viele Eltern als tägliche Herausforderung – besonders wenn sie im Schichtdienst tätig sind. Da passt die Situation von Julia und Waldemar Letkemann ziemlich genau zu den Ergebnissen einer Elternbefragung, die das Institut Arbeit und Wirtschaft (iaw) der Universität Bremen kürzlich im Auftrag der Senatorin für Kinder und Bildung durchgeführt hat. Für die Studie mit dem Titel „Bedarfsanalyse zur Flexibilisierung der Kindertagesbetreuungszeiten für die Stadtgemeinde Bremen“ untersuchten die Forschenden, welchen zusätzlichen Betreuungsbedarf Eltern haben, der von den tatsächlichen Kita-Zeiten aktuell nicht abgedeckt ist.
„Es wäre besonders wichtig, die Randzeitenbetreuung zu erweitern.“
Studien-Autor René Böhme (iaw)
Dabei zeigte sich: Zwei Drittel der befragten Eltern gaben an, keinen Bedarf an zusätzlicher Kindertagesbetreuung zu haben – aber immerhin ein Drittel formulierte zusätzliche Bedarfe. Am häufigsten genannt wurde dabei die Zeit zwischen 16 und 17 Uhr, gefolgt von den Zeitfenstern 17 bis 18 Uhr, 14 bis 16 Uhr sowie 7 bis 8 Uhr (Details siehe Info-Kasten).
„Damit liegt ein Großteil der Zusatzbedarfe innerhalb eines Zeitfensters zwischen 7 und 18 Uhr“, fasst Studien-Autor René Böhme vom iaw zusammen. „Vor 7 Uhr, abends, nachts und am Wochenende haben uns nur jeweils zwei bis drei Prozent aller Befragten zusätzliche Betreuungsbedarfe genannt.“
Die Studien-Ergebnisse sind auch vor dem Hintergrund zu sehen, dass Bremen im Bundesländervergleich derzeit Schlusslicht bei den Kita-Öffnungszeiten ist: Laut einer Erhebung der Bertelsmann-Stiftung öffnen in keinem anderen Bundesland mehr Kitas erst nach 7.30 Uhr und schließen schon vor 16.30 Uhr. „Es wäre darum besonders wichtig, die Randzeitenbetreuung zu erweitern“, macht René Böhme deutlich. Da ein Großteil der Eltern mit zusätzlichem Betreuungsbedarf diesen vor allem unregelmäßig und für einzelne Tage benannt habe, biete sich hier eine quantitative und qualitative Ausweitung sowie eine Flexibilisierung der Früh- und Spätdienste an. „Konkret heißt das, dass die Zahl der Kitas mit längeren Öffnungszeiten in jedem Stadtteil schrittweise erhöht werden sollte und dass es darüber hinaus auch bedarfsgerechtere Angebote braucht.“ So hätten in der Elternbefragung viele Teilnehmende berichtet, dass es sehr entlasten würde, wenn sie ihr Kind bei Bedarf auch mal eine Viertelstunde früher in die Kita bringen oder es nachmittags eine Viertelstunde später abholen könnten.
Landespolitik ist gefordert
Was in den Gesprächen deutlich geworden sei, so Böhme: „Private Lösungen spielen für viele Eltern eine wichtige Rolle und werden häufig ganz selbstverständlich organisiert. Oft springen Großeltern oder Freunde ein, wenn spontan eine Betreuung gebraucht wird.“ Noch wichtiger als Flexibilität bei den Kita- Öffnungszeiten sei den meisten Befragten denn auch die Verlässlichkeit der Betreuung, die angesichts des herrschenden Personalmangels in den Kitas nicht immer sichergestellt sei. Kritisiert worden seien zudem immer wieder die langen Ferienschließzeiten sowie die fehlende Möglichkeit, auch im laufenden Jahr bei veränderten beruflichen Bedingungen neue Betreuungszeiten vereinbaren zu können.
Hier lasse sich ansetzen, so Böhme. Für ein gutes Ergänzungs-Modell hält der iaw-Wissenschaftler das Projekt „MoKi“ (Mobile und flexible Kinderbetreuung) beim Familienzentrum Mobile in Hemelingen, das Eltern eine kurzfristige Betreuung ihrer Kinder ermöglicht. „Eine Ausweitung von MoKi auf weitere Stadtteile würde das Angebot flexibler Kindertagesbetreuung in Bremen, zusammen mit einer Stärkung der mobilen ergänzenden Kindertagespflege, sehr positiv ergänzen.“
Bremen ist im Bundesländervergleich derzeit Schlusslicht bei den Kita-Öffnungszeiten.
Die iaw-Studie mache deutlich, dass eine umfangreiche Elternbefragung die Grundlage dafür sei, deren Betreuungsbedarfe zu erkennen und dann auch entsprechend handeln zu können, betont Thomas Schwarzer, Referent für kommunale Sozialpolitik bei der Arbeitnehmerkammer. „Wir brauchen darum regelmäßig so eine repräsentative Befragung, am besten alle zwei Jahre. Allein die Auswirkungen der Corona-Pandemie zeigen, dass solche Daten immer wieder aktualisiert werden müssen.“
Unabhängig davon sei die Politik aufgefordert, verlässliche Betreuungsstrukturen sicherzustellen und parallel dazu die Betreuungszeiten Schritt für Schritt auf einen Zeitraum von 7 bis 18 Uhr auszubauen. „Die Landesregierung hat selbst in ihrem Koalitionsvertrag angekündigt, in den Kitas Früh- und Spätdienste finanziell besser ausstatten zu wollen und in mindestens einer Einrichtung pro Stadtteil erweiterte Öffnungszeiten anzubieten“, erläutert Schwarzer. „Jetzt müssen den Worten Taten folgen.“
Betreuungszeit reicht nicht für Vollzeitjob
Zu den wenigen Müttern, die sich eine Betreuungsmöglichkeit auch nachts wünschen würden, gehört Franziska Lemnitz. Die Notfallsanitäterin im Rettungsdienst, die ihren Familienalltag rund um Bereitschaftsdienste und Zwölf-Stunden-Schichten organisieren muss, sagt: „Zurzeit klappt es mit der Betreuung unseres Sohnes und unseren Arbeitszeiten nur, weil der Arbeitgeber meines Partners Gleitzeit ermöglicht. Unsere Familien wohnen weit entfernt und können somit nicht unterstützen. Ich wünsche mir Früh- und Spätdienste, am liebsten wäre mir eine 24-Stunden-Kita.“
"Zurzeit klappt es mit der Betreuung unseres Sohnes und unseren Arbeitszeiten nur, weil der Arbeitgeber meines Partners Gleitzeit ermöglicht.“
Franziska Lemnitz ist Notfallsanitäterin im Rettungsdienst mit Bereitschaftsdiensten und Zwölf-Stunden-Schichten.
Für Bianca G. wären erweiterte Öffnungszeiten die Voraussetzung dafür, ihre Arbeitszeit erhöhen zu können. Momentan arbeitet die alleinerziehende Mutter einer vierjährigen Tochter wochentags von 8 bis 13 Uhr und ist froh, dass ihre Kita in Gröpelingen einen Frühdienst ab 7.30 Uhr anbietet. „Das kommt gerade so hin, weil die Kita auf dem Weg zur Arbeit liegt“, berichtet die kaufmännische Angestellte. „Aber ich suche gerade eine neue Wohnung und wenn die weiter weg sein sollte, wird das schon knapp.“
„Ich kann nicht Vollzeit arbeiten, weil mir dafür die Betreuung fehlt.“
Bianca G., alleinerziehende Mutter einer vierjährigen Tochter
Grundsätzlich würde sie gerne länger arbeiten, am liebsten bis 16 Uhr: „Mit der bestehenden Betreuungszeit funktioniert das aber nicht.“ Was für die 35-Jährige darüber hinaus schwierig ist: Das Geschäft, in dem sie arbeitet, hat bis 17 Uhr geöffnet – und ihr Chef würde sich wünschen, dass sie bei Bedarf auch mal bis zum Ende bleiben kann. Als sie vor einer Weile eine Kollegin vertrat, die im Urlaub war, musste sie für die nachmittags entstandene Betreuungslücke privat eine Babysitterin organisieren und bezahlen.
„Ich bräuchte da schon die Flexibilität, auch mal spontan einspringen zu können, wenn die Kollegin krank ist“, macht Bianca G. deutlich. „Dafür müsste die Kita allerdings mindestens bis 17.30 Uhr geöffnet sein und das ist sie nicht.“ Sie verstehe, dass das mit der aktuellen Personallage nicht einfach sei. Fakt sei aber auch: „Ich kann nicht Vollzeit arbeiten, weil mir dafür die Betreuung fehlt.“
Kommentar von Elke Heyduck, Geschäftsführerin und Leitung Politikberatung
Da muss mehr gehen!
Gleichstellungs- und familienpolitisch gibt es reichlich Aufholbedarf. Im bundesweiten Vergleich der Länder und Großstädte hat Bremen eine der niedrigsten Erwerbsquoten von Frauen sowie besonders hohe Teilzeit- und Minijob-Anteile.
Um hier Fortschritte zu erzielen, kann es nicht sein, dass Bremen gleichzeitig das Bundesland mit den kürzesten Zeitfenstern in der Kindertagesbetreuung bleibt. Zumal die Bremer Familien sehr realistische Betreuungsbedarfe formulieren, wie die detaillierte Elternbefragung zeigt.
Lediglich jede dritte Familie bräuchte entweder am Morgen einen um eine Stunde früheren Beginn oder am Nachmittag Betreuungszeiten bis 17 oder 18 Uhr. Solche Kitaöffnungszeiten in zumindest ein oder zwei Einrichtungen pro Stadtteil wären eine große Erleichterung bei der Vereinbarkeit von Familie und Beruf.
Dieser Schritt ist zudem im aktuellen Koalitionsvertrag angekündigt und muss jetzt auch umgesetzt werden. Zukünftig sollte außerdem alle zwei Jahre eine Elternbefragung durchgeführt werden, um den Betreuungsbedarfs der Eltern aktuell zu ermitteln – differenziert nach Stadtteilen.