Eine aktuelle Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts stellt klar: Arbeitgeber müssen für ihre Beschäftigten ein System zur Erfassung der Arbeitszeit bereitstellen. Was bedeutet das für die Praxis?
Text: Anne-Katrin Wehrmann
Foto: Jonas Ginter
27. Dezember 2022
Bei den Fahrerinnen und Fahrern des Paketdienstleisters UPS läuft die Zeiterfassung schon seit Langem komplett automatisch. Wenn sie morgens um 8.30 Uhr ihren digitalen Scanner in Betrieb nehmen, beginnt damit die Aufzeichnung ihrer Arbeitszeit – sobald sie das Gerät abends zurück in die Aufladestation stellen, endet sie. Nur, wenn die Arbeitszeit erfasst wird, lassen sich Verstöße gegen gesetzliche und betriebliche Regelungen erkennen. Der Betriebsrat, den es am Bremer UPS-Standort erst seit einigen Jahren gibt, beschäftigt sich seit seiner Gründung intensiv mit der Analyse der Aufzeichnungen und hat dabei in der ersten Zeit festgestellt: „Es kam zu regelmäßigen Verstößen.“ Das berichtet der Betriebsratsvorsitzende Arne Schneider.
In den Arbeitsverträgen der UPS-Beschäftigten ist eine Wochenarbeitszeit von 39 Stunden festgelegt. Angesichts schwankender Paket-Aufkommen fordert der Arbeitgeber allerdings, je nach Bedarf Überstunden anordnen zu können. Was also tun? „Bei uns ist die Herausforderung, dass ein Teil der Belegschaft geregelte Arbeitszeiten haben möchte, während ein anderer Teil möglichst viel Geld verdienen und darum möglichst viel arbeiten will“, berichtet Schneider. Im Rahmen einer Betriebsvereinbarung einigten sich die Parteien 2019 schließlich darauf, dass bei erhöhtem Arbeitsaufkommen alle Beschäftigten bis zu 3,5 Überstunden pro Woche zu leisten haben. Wer mehr arbeiten möchte, kann das tun – bis zur gesetzlich vorgegebenen wöchentlichen Höchstarbeitszeit von 48 Stunden. „Das
funktioniert hervorragend“, stellt der
Betriebsratsvorsitzende fest, „die Stimmung im Team ist seitdem deutlich besser geworden.“ Arbeitszeitverstöße meldet das System jetzt nur noch in seltenen Ausnahmefällen. Und fast immer gibt es eine Ursache dafür, die nicht in der Verantwortung des Arbeitgebers liegt: Stau auf den Bremer Straßen.
„Es braucht eine klare Regelung und Kontrollen“
Beschäftigte dürfen höchstens acht Stunden pro Tag arbeiten, in Ausnahmefällen auch zeitweise bis zu zehn: Das schreibt das deutsche Arbeitszeitgesetz (ArbZG) vor und lässt nur für wenige Branchen Abweichungen zu. Zudem muss nach der Beendigung der täglichen Arbeitszeit eine ununterbrochene Ruhezeit von mindestens elf Stunden eingehalten werden. Bisher mussten laut Gesetz nur Überstunden und Sonntagsarbeit dokumentiert werden – das stellt sich nach dem Grundsatzurteil des Bundesarbeitsgerichts (s. Info-Kasten) nun anders dar. Demnach müssen alle Arbeitgeber ein System einführen, mit dem sich die gesamte Arbeitszeit von der ersten Stunde an erfassen lässt. Schon vor dem aktuellen Urteil hätten die Digitalisierung und die damit geänderten Arbeitsweisen das Arbeitszeitrecht zu einem Topthema in der aktuellen arbeitsrechtlichen Diskussion aufsteigen lassen, berichtet Kaarina Hauer, Leiterin Rechtspolitik und -beratung bei der Arbeitnehmerkammer. „Da geht es einerseits um den Ruf nach Flexibilität und andererseits um die Gefahren der Entgrenzung von Arbeit und Privatleben“, erläutert sie.
„Es braucht eine klare Regelung und Kontrollen, insbesondere im Bereich des Niedriglohnsektors.“
Kaarina Hauer, Leiterin Rechtspolitik und -beratung
Im Sinne des Gesundheitsschutzes sei eine weitere Flexibilisierung der derzeitigen arbeitszeitrechtlichen Regelungen äußerst kritisch zu sehen, sagt Hauer. „Vielmehr braucht es eine klare Regelung und Kontrollen, insbesondere im Bereich des Niedriglohnsektors. Aus der Beratung bekommen wir sehr häufig erzählt, dass zum Beispiel in der Gastronomie, Pflege und in der Logistik sowie in vielen Bereichen der Zeitarbeit unzumutbare Zustände in Hinblick auf die Einhaltung von Höchstarbeitszeiten, Schichtdiensten und Ruhezeiten herrschen.“ Bei Redaktionsschluss lag eine ausführliche Urteilsbegründung noch nicht vor, deswegen ist eine entscheidende Frage momentan noch offen: Müssen Arbeitgeber lediglich ein System zur Zeiterfassung bereitstellen oder sind sie verpflichtet, die Arbeitszeiten dann auch tatsächlich flächendeckend aufzuzeichnen? „Wie die Pflichten der Arbeitgeber konkret auszusehen haben, wird letztlich erst mit den Entscheidungsgründen des Gerichts und mit einer eindeutigen gesetzlichen Regelung klar werden“, macht Hauer deutlich.
Urteile
Bereits im Mai 2019 hatte der Europäische Gerichtshof (EuGH) entschieden, dass Unternehmen in der EU „objektive, verlässliche und zugängliche“ Systeme einrichten müssen, mit denen die tägliche Arbeitszeit ihrer Beschäftigten erfasst wird. In Deutschland ist der Gesetzgeber untätig geblieben, das Urteil wurde bisher nicht in nationales Recht überführt. Mit einer neuen Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts (BAG) wurden jetzt Fakten geschaffen. In einem Verfahren, in dem es ursprünglich um die Frage ging, ob ein Betriebsrat bei der Einführung eines Zeiterfassungssystems ein Initiativrecht hat, urteilte das BAG Mitte September: Schon jetzt besteht für Arbeitgeber eine gesetzliche Verpflichtung zur Einführung von Systemen zur Arbeitszeiterfassung. Dabei bezog sich das Gericht auf eine Norm aus dem Arbeitsschutzgesetz (ArbSchG), laut der Arbeitgeber zur Einhaltung von Arbeitsschutzvorschriften „für eine geeignete Organisation zu sorgen und die erforderlichen Mittel bereitzustellen“ haben (§ 3 Abs. 2 Nr. 1 ArbSchG). Nach Ansicht des BAG beinhaltet dies bei einer Auslegung im Sinne des EU-Rechts auch die Messung und Erfassung der Arbeitszeit.
Kein Ende von Homeoffice und Vertrauensarbeitszeit
Fest steht: Für Beschäftigte, die einen Minijob haben oder nur den Mindestlohn erhalten, gibt es schon längst eine Pflicht zur Dokumentation der Arbeitszeit. „Denn ohne eine Aufzeichnungspflicht wäre es allzu leicht, sie durch die Manipulation der Arbeitszeit um ihren Lohn zu betrügen“, betont Regine Geraedts, Referentin für Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik bei der Arbeitnehmerkammer. Das Gleiche gelte für die elf im Gesetz zur Bekämpfung der Schwarzarbeit aufgeführten Branchen. Arbeitszeiterfassung sei eine Grundbedingung dafür, dass der Arbeitsschutz eingehalten werde und ausufernde Arbeitszeiten eingedämmt werden könnten, so Geraedts: „Dass Arbeitgeber dagegen regelmäßig ein Zuviel an Bürokratie ins Feld führen, ist eine Scheindebatte. Schließlich gibt es inzwischen viele digitale Tools, mit denen sich die tägliche Zeiterfassung gänzlich unbürokratisch und absolut verlässlich erledigen lässt.“
In Gastronomie, Pflege, Logistik und in vielen Bereichen der Zeitarbeit herrschen unzumutbare Zustände in Hinblick auf die Einhaltung von Höchstarbeitszeiten, Schichtdiensten und Ruhezeiten.
Das sieht Ernesto Harder, Geschäftsführer der DGB Region Bremen-Elbe-Weser, ähnlich. Mit Blick auf die vielen praktischen Tools, die es mittlerweile gebe, meint der Gewerkschafter: „Dass es nun angeblich zurück zur Stechuhr gehen soll, wie vielfach zu lesen war, ist das schwächste Argument überhaupt.“ Zum eigenen Schutz sei die Erfassung der Arbeitszeit für alle Beschäftigten wichtig – auch für die, die sich mit ihren Arbeitgebern auf Modelle des mobilen Arbeitens oder der Vertrauensarbeitszeit verständigt hätten. Im Übrigen sei auch die Diskussion um ein vermeintliches Ende der Vertrauensarbeitszeit eine Gespensterdebatte: „Wer so etwas sagt, schürt damit Ängste, die total überflüssig sind – sowohl bei den Beschäftigten als auch bei den Arbeitgebern.“ Immerhin gälten die Regelungen des Arbeitszeit- und des Arbeitsschutzgesetzes auch jetzt schon. Wer eine Verkürzung der gesetzlichen Ruhezeiten und eine Erhöhung der Höchstarbeitszeiten fordere, schreie danach, Schutzmechanismen zu schwächen, so Harder. „Und wer Schutzmechanismen schwächt, spielt mit der Gesundheit seiner Beschäftigten.“
Beim „Wie“ dürfen Betriebsräte mitbestimmen
Doch was lässt sich nun in den Betrieben tun, um die Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts in die Praxis umzusetzen? Der Beschluss stellt klar: Betriebsräte haben bei der Einführung einer Zeiterfassung kein Initiativrecht. „Sie können also das ,Obʻ nicht mittels einer Einigungsstelle erzwingen“, erläutert Klaas Kuhlmann, Berater Mitbestimmung und Technologieberatung bei der Arbeitnehmerkammer. Auch gewähre weder das Betriebsverfassungsrecht noch das Arbeitsschutzgesetz dem Betriebsrat ein eigenes Recht, um die Einhaltung der gesetzlichen Pflicht des Arbeitgebers zur Arbeitszeiterfassung durchzusetzen. „Solange der Gesetzgeber hierzu nicht aktiv wird, bleibt dem Betriebsrat zunächst nur, auf eine Einführung der Zeiterfassung zu drängen“, macht Kuhlmann deutlich. „Er kann die zur Überwachung der Einhaltung des Arbeitszeitgesetzes erforderlichen Arbeitszeitdaten einfordern, gegebenenfalls gerichtlich, und als letztes Mittel die Aufsichtsbehörden einschalten.“
„Zum eigenen Schutz ist die Erfassung der Arbeitszeit auch für die wichtig, die sich mit ihren Arbeitgebern auf mobiles Arbeiten oder Vertrauensarbeitszeit verständigt haben.“
Ernesto Harder, Geschäftsführer der DGB Region Bremen-Elbe-Weser
So weit wird es aber nach seiner Einschätzung vielfach nicht kommen. „Die vom Bundesarbeitsgericht festgestellte Verpflichtung, wie sie auch im Detail aussehen mag, erhöht den Druck auf diejenigen Arbeitgeber, die bisher die Arbeitszeit noch nicht erfassen“, betont Kuhlmann. „Sie verstoßen gegen das Arbeitsschutzgesetz, darum dürften viele von ihnen jetzt aktiv werden und ein für sie passendes System zur Arbeitszeiterfassung suchen.“ Beim „Wie“, also der konkreten Ausgestaltung und Umsetzung, stehe dem Betriebsrat dann ein Mitbestimmungsrecht zu: Das gelte insbesondere dann, wenn die Erfassung mittels technischer Einrichtungen erfolge. Auch hier bleibe aber die Veröffentlichung der Urteilsbegründung abzuwarten. „Erst dann wird absehbar sein, welche konkreten Vorgaben das Gericht dazu macht und wo Gestaltungsspielraum für die Betriebsparteien besteht.“
Welche Bedeutung die Arbeit von Betriebsräten hat, zeigt das Eingangsbeispiel von UPS, wo die Arbeitszeit schon seit vielen Jahren automatisch dokumentiert wird. „Ich halte das für absolut richtig und wichtig“, macht der Bremer UPS-Betriebsratsvorsitzende Arne Schneider deutlich. „Aber wir haben bei uns erlebt, dass eine lückenlose Zeiterfassung allein nicht viel nützt.“ Solange niemand einen Blick darauf habe, sei die Arbeitszeiterfassung letztlich auch nur ein stumpfes Schwert: „Darum ist es entscheidend, dass sie kontrolliert wird – zumindest in Stichproben.“
Es ist an der Zeit!
Kommentar von Kaarina Hauer, Leitung der Rechtsberatung und -politik der Arbeitnehmerkammer Bremen
Mit Kritik an den höchstrichterlichen Entscheidungen zur Verpflichtung der Arbeitszeiterfassung wird nicht gespart: Wie kann die Transformation des Arbeitsmarktes mit den Relikten aus der alten Arbeitswelt wie Stechuhr und Zeiterfassung gelingen? Die Digitalisierung und Globalisierung brauche Vertrauensarbeitszeit und Menschen, die über Grenzen hinweg arbeiten.
Dabei wird schlichtweg nicht erwähnt, dass das Arbeitszeitgesetz seit 1994 gilt, aber durch fehlende Arbeitszeiterfassung oft ausgehebelt wird. Überstunden werden mit „Vertrauen“ bezahlt, der Mindestlohn umgangen, Arbeiten endet mitunter in Entgrenzung und schadet der Gesundheit.
Es ist an der Zeit, den Irrsinn der Selbstausbeutung und Gratisstunden mit einem klugen Gesetz zu beenden. Wie fair und gerecht am Ende des Tages tatsächlich bezahlt und ob der Arbeitsschutz im Betrieb wirklich gelebt wird – oder nur eine lästige Worthülse ist –, wird sich zeigen, wenn die „objektive, verlässliche und zugängliche“ Arbeitszeiterfassung umgesetzt ist.
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