Prekäre Arbeitsbedingungen herrschen nicht nur dort, wo der Lohn niedrig und der Job unsicher ist. Auch in der Pflege sind die Belastungen groß, überall fehlt Personal. Ein Bremer Modellprojekt versucht jetzt, Veränderungen anzustoßen.
Text: Greta-Marleen Storath, Dr. Jennie Auffenberg
Pflegekräfte empfinden ihren Beruf als sinnstiftend: Neun von zehn Beschäftigten sagen, dass sie mit ihrer Arbeit einen wichtigen Beitrag für die Gesellschaft leisten.1 Aber hohe Arbeitsbelastungen, unzuverlässige Dienstpläne, fehlende Anerkennung und Wertschätzung sowie eine – gemessen an der Verantwortung – oft unzureichende Bezahlung führen in der Pflege zu problematischen Arbeitsbedingungen. Im Pflegedienst der Bremer Krankenhäuser arbeitet aktuell mehr als die Hälfte der Beschäftigten in Teilzeit oder ist geringfügig beschäftigt.2 Sie begründen das nicht nur mit der besseren Ver-einbarkeit von Beruf, Privatleben und Familie, sondern auch mit der hohen Arbeitsbelastung einer Vollzeittätigkeit.3
Viele Beschäftigte reagieren nicht nur mit einer Stundenreduzierung, sondern entscheiden sich sogar für einen Berufsausstieg. Nach aktuellen Schätzungen gibt es mehr als 490.000 ausgestiegene Krankenpflegefachkräfte in Deutschland.4 Für das Land Bremen wären das fast 4.700 Fachkräfte, die ihre Arbeit in der Krankenpflege verlassen haben. Sichtbar wird die angespannte Personalsituation auch an der steigenden Zahl offener Stellen in der Pflege.
Diese Zahlen zeigen: Der Pflegenotstand und der Fachkräftemangel sind allgegenwärtig. Der Personalmangel ist dabei nicht nur die Folge der prekären Arbeitsbedingungen im Krankenhaus, er verstärkt auch die ohnedies hohe Arbeitsbelastung. Je angespannter die Personalsituation ist, desto höher wird der Druck auf das noch verbleibende Personal. Die Arbeit in Unterbesetzung und die steigende Arbeitsverdichtung führen dazu, dass Pflegekräfte zu wenig Zeit für menschliche Zuwendung und bedarfsorientierte Pflege haben.
Um diesen Teufelskreis zu durchbrechen, braucht es substanzielle Verbesserungen. Denn das Fachkräftepotenzial ist da: Die Pflegepotenzialstudie „Ich pflege wieder, wenn …“ hat gezeigt, dass durch eine Berufsrückkehr und Stundenerhöhung bundesweit mindestens 172.000 zusätzliche Vollzeitkräfte für die Krankenpflege zur Verfügung stehen würden.5
Zum Zoomen Mausrad oder Finger verwenden

Ein Modellprojekt wird auf den Weg gebracht
Auch wenn die Arbeit in der Krankenpflege mit hohen Belastungen einhergeht, zeigen die Ergebnisse der Befragungen deutlich: Viele Beschäftigte möchten in der Pflege bleiben oder dorthin zurückkehren. Sie wollen aber auch Bedingungen vorfinden, die ein gutes Arbeiten und eine bedarfsorientierte Pflege ermöglichen. Um diese Bedingungen in der Praxis zu realisieren, startete im Februar das Modellprojekt „Ich pflege wieder, weil …“ am St. Joseph-Stift in Bremen. Es wurde von der Arbeitnehmerkammer initiiert und zusammen mit der Senatorin für Gesundheit, Frauen und Verbraucherschutz sowie der Senatorin für Arbeit, Soziales, Jugend und Integration auf den Weg gebracht.7 Ziel des Projekts ist es, die Ergebnisse der Studie „Ich pflege wieder, wenn …“ in der Praxis umzusetzen, diese modellhaft zu erproben und damit langfristige betriebliche und politische Veränderungen anzustoßen.
Das Modellprojekt „Ich pflege wieder, weil …“ hat eine Laufzeit von vier Jahren und umfasst die gesamte Geburtshilfe (Kreißsaal, Wochenbett- sowie Früh- und Neugeborenenstation); Pflegekräfte und Hebammen arbeiten dort gemeinsam. Hier sollen umfassende Verbesserungen der Arbeitsbedingungen erreicht und betrieblich verankert werden, um das vorhandene Personal zu entlasten und eine gute und bedarfsorientierte Pflege- und Hebammenarbeit zu ermöglichen. Diese Entlastungen sollen Teilzeitkräfte, die aufgrund der hohen Arbeitsbelastung ihre Stunden reduziert haben, motivieren, ihre Arbeitszeit wieder zu erhöhen. Außerdem sollen ausgestiegene Pflegekräfte und Hebammen für eine Rückkehr in den Beruf gewonnen werden. Das Projekt setzt damit ein Zeichen für mehr Geschlechtergerechtigkeit. Denn der überwiegende Teil der Pflegekräfte und Hebammen ist weiblich. Viele von ihnen arbeiten in Teilzeit und verdienen dementsprechend weniger. Eine Erhöhung der wöchentlichen Arbeitszeit würde für diese Frauen eine finanzielle Verbesserung und einen wichtigen Schritt Richtung Entgeltgleichheit bedeuten.
Um nachzuverfolgen, ob die durch das Modellprojekt angestrebten Entlastungen für die Beschäftigten tatsächlich realisiert werden, wird es von der Arbeitnehmerkammer eng begleitet und jährlich evaluiert. Die Ergebnisse werden regelmäßig in die Öffentlichkeit kommuniziert und sollen als Best-Practice-Beispiele für andere Krankenhäuser und Pflegeeinrichtungen nicht nur im Land Bremen dienen. Darüber hinaus kann ein erfolgreiches Modellprojekt ein bundesweites Signal an die Politik senden, dass der Personalmangel in der Pflege durch umfassende Verbesserungen der Arbeitsbedingungen bewältigt werden kann.
Konkrete betriebliche Veränderungen anstoßen
Was soll das Modellprojekt ganz konkret verändern? An oberster Stelle steht die Einführung einer betrieblich verankerten und bedarfs-gerechten Personalbemessung. Diese wird gemeinsam mit den Beschäftigten erarbeitet und im Rahmen einer Dienstvereinbarung eingeführt. Außerdem soll ein umfassendes, strukturiertes Ausfallmanagement entwickelt werden, das nach kurz-, mittel- und langfristigen Ausfällen unter-scheidet. Dadurch wird nicht nur die Einhaltung der Personalbemessung unterstützt, sondern auch eine höhere Verlässlichkeit der Arbeitszeiten und Dienstpläne sichergestellt. Auch hier ist eine Dienstvereinbarung geplant. Das dritte Teilprojekt widmet sich dem Thema Führungskultur: Alle Leitungskräfte sollen durch Schulungen und Vernetzungen dafür sensibilisiert werden, eine verbesserte und wertschätzende Führungskultur zu etablieren. Außerdem wird der Austausch im Kollegium durch regelmäßige Zeiten für die kollegiale Beratung und Supervision unterstützt. Insbesondere in einem interdisziplinären Team mit verschiedenen Berufsgruppen (Pflegekräfte, Hebammen, Ärztinnen und Ärzte verschiedener Fachrichtungen) kann die interprofessionelle kollegiale Beratung die Zusammenarbeit im Team stärken.
Der letzte große Baustein des Projekts ist ein umfassendes Onboarding-Programm. Über dieses Programm werden ausgestiegene Pflegekräfte und Hebammen gezielt angesprochen und ein gut begleiteter Einarbeitungsprozess sichergestellt. Dazu müssen nicht nur organisatorische und pflegerische Prozesse auf den Stationen angepasst werden, sondern dafür braucht es auch die engmaschige Begleitung durch Vorgesetzte und Kolleginnen und Kollegen. Ein umfassendes Einarbeitungsprogramm unterstützt nicht nur die (neu oder wieder) einsteigenden Pflegekräfte, es entlastet auch das vorhandene Personal.
Zum Zoomen Mausrad oder Finger verwenden

Darüber hinaus kann ein solches Programm ebenso für andere Zielgruppen genutzt werden, etwa generalistisch ausgebildete Pflegekräfte, die ihren ersten Einsatz in der Kinderkrankenpflege haben, oder Fachkräfte aus dem Ausland, die beim Ankommen im neuen sozialen und betrieblichen Umfeld begleitet werden müssen.
Damit das Projekt gelingen kann, braucht es die Partizipation der Beschäftigten und eine Anpassung aller Maßnahmen an die betrieblichen Gegebenheiten und Bedarfe. Dies geschieht durch Befragungen und Interviews von Beschäftigten sowie ihre aktive Mitarbeit in der konkreten Ausgestaltung des Projekts. Damit sich die Beschäftigten aktiv im Projekt beteiligen können, ohne dass dies bei ihnen zu einer Mehrbelastung führt, ist zusätzliches Personal nötig, das bei Leasingagenturen engagiert wird. Wenngleich Leiharbeit auch in der Pflege kritisch zu bewerten ist, scheint ihr gezielter und temporärer Einsatz an dieser Stelle doch notwendig, um das Projekt zu realisieren. Zu guter Letzt hängt der Erfolg des Modellprojekts auch von der Bereitschaft der Geschäftsführung und des Leitungspersonals zur proaktiven Umsetzung der Ideen ab. Nur ein Gesamtpaket, das die Bedarfe der Beschäftigten berücksichtigt und gemeinsam mit ihnen entwickelt wird, signalisiert den Pflegefachkräften und Hebammen: Wir meinen es ernst!
Nachhaltige Verbesserungen brauchen politischen Veränderungswillen
Die Ergebnisse des Modellprojekts können wichtige Impulse für Politik und Praxis setzen. Gleichzeitig wissen wir schon jetzt, dass sich die politischen und strukturellen Rahmenbedingungen der Pflege verändern müssen, um diese Ergebnisse überhaupt in die Praxis tragen zu können. Denn nur mit politischen Veränderungen kann es gelingen, substanzielle Verbesserungen in der Pflege langfristig, nachhaltig und flächendeckend umzusetzen. Demnach können folgende Handlungsempfehlungen ausgesprochen werden:
- Damit sich die Beschäftigungsbedingungen im Krankenhaus verbessern, bedarf es einer auskömmlichen Finanzierung. Die wichtigste Voraussetzung auf bundespolitischer Ebene: Die Basis der Krankenversicherung muss im Sinne einer solidarischen Gesundheitsversicherung erweitert werden. Auch die Länder müssen ihren Verpflichtungen nachkommen und die Finanzierung von Investitionen sicherstellen.
- Es braucht außerdem ein Finanzierungssystem, in dem eine bedarfsorientierte Versorgung vor wirtschaftlichen Interessen steht. Die aktuelle Finanzierung über Fall-pauschalen erhöht den wirtschaftlichen Druck für Krankenhäuser und setzt Fehl-anreize in der Versorgung. Nur durch eine vollständige Ablösung dieses Systems durch eine kostendeckende Vergütung kann der enorme wirtschaftliche Druck zulasten der Beschäftigten gesenkt werden.
- Außerdem müssen bedarfsgerechte Instrumente zur Personalbemessung (wie die Pflegepersonalregelung PPR 2.0) schnell und konsequent eingeführt werden. Denn die bedarfsorientierte Personalausstattung ist eine zentrale Forderung vieler Pflegekräfte und ein entscheidender Motivationsfaktor für die Stundenerhöhung und Berufsrückkehr.8
- Auch wenn die Löhne in der Pflege in den letzten Jahren gestiegen sind, ist die Bezahlung weiterhin eine entscheidende Stellschraube für die (Rück-)Gewinnung von Personal, die auch eine wichtige Form der Anerkennung ausdrückt.
- Die Förderung von Modellprojekten setzt wichtige politische Impulse und stößt Veränderungen in der Praxis an. Entsprechend müssen diese Projekte über das Land Bremen hinaus in die Fläche gebracht werden. Vor Ort sollte analog zum Projekt im Krankenhaus auch ein Modellprojekt in der stationären und ambulanten Altenpflege initiiert werden, um die spezifischen Herausforderungen dieser Arbeitsbereiche zu adressieren.
Literatur
Arbeitnehmerkammer Bremen (Hrsg.) (2023): Koordinaten der Arbeit im Land Bremen. Befragung von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern 2023.
Arbeitnehmerkammer Bremen (Hrsg.) (2022):
„Ich pflege wieder, wenn …“ – Potenzialanalyse zur Berufsrückkehr und Arbeitszeitaufstockung von Pflegefachkräften
Bundesministerium für Gesundheit (Hrsg.) (2023):
Pflegearbeitsplatz mit Zukunft! Die Ergebnisse der Studie zur Arbeitsplatzsituation in der Akut- und Langzeitpflege auf einen Blick.
Bundesagentur für Arbeit (2024):
Sonderauswertung für die Arbeitnehmerkammer Bremen.
Statistisches Landesamt (2023):
Bremen Infosystem, 23111 Grunddaten Krankenhäuser
Fußnoten
1 Vgl. Arbeitnehmerkammer Bremen (2023); 2 Vgl. Statistisches Landesamt (2023); 3 Vgl. Arbeitnehmerkammer Bremen (2023); BMG (2023), S. 7.; 4 Vgl. Arbeitnehmerkammer Bremen (2022), S. 44; 5 Vgl. Arbeitnehmerkammer Bremen (2022), S. 11.; 6 Vgl. Arbeitnehmerkammer Bremen (2023); 7 Das Projekt wird mit 1,2 Millionen Euro als Maßnahme der Landesstrategie Gendergerechtigkeit und Entgeltgleichheit sowie des Europäischen Sozialfonds Plus gefördert; 8 Vgl. Arbeitnehmerkammer Bremen (2022), S. 63.