Text: Anna Zacharias
Foto: Kay Miachalak
1. September 2024
Die Fahrten nach Dänemark waren seine liebsten. Die schöne Landschaft, die Wiesen. Wenn in aller Frühe der Tau auf dem Rücken der Schafe glitzerte. „Aber dafür muss man natürlich ein Auge haben“, sagt Michael Hübner*. Der 62-Jährige hat gern als Fernfahrer gearbeitet. Nach zwei Thrombosen war für ihn Schluss, von einem Tag auf den anderen. Stundenlang im Lkw sitzen, das geht nicht mehr. Er ist seit mehr als einem Jahr krankgeschrieben, der Anspruch auf Krankengeld läuft bald aus, es droht die Kündigung.
Und nun? Zu jung für die Rente, zu alt für eine Umschulung – und sein Bremer Arbeitgeber sieht keine Möglichkeit, ihn an anderer Stelle einzusetzen. „Ich wurde abserviert“, sagt Hübner. Es habe zunächst Gespräche zur Wiedereingliederung gegeben, die er auch als konstruktiv empfunden habe. Ende April dieses Jahres kam dann die Information, man sehe für ihn keine Möglichkeit an anderer Stelle. „In der Bremer Filiale gibt es eine große Werkstatt. In dieser konnte ich schon einmal mehrere Monate arbeiten und somit für meine Firma nützlich sein. Und nun soll es nicht mehr gehen?“ Dabei ist es kein Kleinbetrieb, bei dem er seit 14 Jahren angestellt ist, das Logistikunternehmen hat international fast 2000 Fahrzeuge. Hübner wandte sich an die Arbeitnehmerkammer und landete dort im Büro von Rechtsberater Philipp Laß.
Beratung bei der Arbeitnehmerkammer
„Es handelt sich nicht um einen Einzelfall“, erzählt der. Wenn altersbedingt weder eine Umschulung noch eine andere Aufgabe im Betrieb infrage kommen, bleibt oft nur eine geringe Erwerbsminderungsrente. Und das, obwohl Michael Hübner gern weiterarbeiten würde. „Leider gibt es vertraglich in diesem Fall keine Pflicht des Arbeitgebers, ihn weiterzubeschäftigen“, sagt Laß. Dann kann er nur dazu raten, sich bei der Rentenkasse über die Möglichkeiten zu informieren.
Dort, sagt Hübner, bekomme er erst Informationen, wenn eine Kündigung da sei, die bislang nicht ausgesprochen wurde: „Vermutlich will man eine Abfindung vermeiden.“ Trotzdem hat er sich bei der Agentur für Arbeit arbeitssuchend gemeldet, wo man ihn an eine Leiharbeitsfirma für Getränkelieferungen vermitteln wollte –
„das ist so ziemlich das körperlich Schwerste, was es gibt“, konstatiert er.
Hella Grapenthin berät bei der Arbeitnehmerkammer Berufstätige, die sich umorientieren wollen oder müssen. Eine Umschulung ab 60 würde sie eher nicht mehr empfehlen, trotzdem lohne sich Weiterbildung aus ihrer Sicht immer: „Zum Beispiel kann das eine Aufstiegsfortbildung sein, mit der man dann vielleicht ins Büro wechseln kann“, sagt sie.
Wer noch mehrere Jahre im Beruf vor sich hat, könnte zum Beispiel im Bereich IT mit einer Qualifizierung etwas erreichen: „Natürlich nur, wenn ein grundsätzliches Interesse und Verständnis da ist“, meint Grapenthin. In diesem Bereich herrsche derzeit Fachkräftemangel, außerdem werde er immer kleinteiliger, sodass man sich im passenden Feld spezialisieren könne.
Kein Recht auf Weiterbildung
Der Altersdurchschnitt der Ratsuchenden in der Weiterbildungsberatung der Arbeitnehmerkammer liegt bei 35 bis 55 Jahren, mehr als die Hälfte sind Kaufleute, die den Aufgabenbereich wechseln wollen. Um finanziell in dieser Zeit überhaupt über die Runden zu kommen, gebe es allerdings derzeit zu wenige Fördermöglichkeiten, kritisiert Grapenthin. Wenn der Arbeitgeber wie im Fall von Michael Hübner eine Weiterbildung ablehnt, sind die Möglichkeiten begrenzt – gerade im fortgeschrittenen Alter. „Ein Recht auf Weiterbildung hat der Arbeitnehmer nicht, wenn sein Arbeitgeber ihn nicht dafür freistellt“, erklärt sie.
Auch wenn er als Arbeitsloser eine Förderung in Form eines Bildungsgutscheins bekommen wollen würde, sei das schwierig, meint die Weiterbildungsexpertin. „Es ist in dem Alter häufig nicht einfach, einen Bildungsgutschein für eine längere Qualifizierung zu erhalten.“ Sollte er wiederum ohne finanzielle Förderung der Agentur für Arbeit eine Vollzeitweiterbildung machen wollen, so müsse sie dies genehmigen, da er in dieser Zeit dem Arbeitsmarkt nicht zur Verfügung steht. Alternativ würde höchstens eine berufsbegleitende Weiterbildung möglich sein, die sicherstellt, dass er weiterhin verfügbar ist.
Rechtsberater Philipp Laß sieht darin einen Missstand: „Die Menschen können schließlich nichts dafür, dass sie nicht mehr arbeiten können. Eine Erwerbsminderungsrente ist nicht hoch, es dauert zudem etwa ein Jahr, sie zu beantragen und viele Anträge werden auch abgelehnt. In Frührente kann man oft nur gehen, wenn man 45 Jahre gearbeitet hat. Eine Frührente ist anderenfalls regelmäßig mit teils erheblichen Abschlägen verbunden. Bei Ablehnung droht als letzter Schritt das Bürgergeld“, sagt der Jurist.
2001 wurde die Berufsunfähigkeitsrente über die gesetzliche Rentenversicherung abgeschafft und ist jetzt nur noch für Betroffene verfügbar, die bis Neujahr 1961 geboren wurden. „Der Staat zieht sich damit zu sehr aus der Verantwortung. Wer ohne private Berufsunfähigkeitsversicherung seinen Beruf aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr weiter ausüben kann, steckt in echten Schwierigkeiten“, kritisiert Magnus Brosig, Experte für Rentenpolitik bei der Arbeitnehmerkammer. Leider seien diese Policen gerade für Risikogruppen sehr teuer, und Versicherer könnten Interessenten auch ablehnen.
Hohe Abschläge bei der Rente
Im Übrigen habe sich die Höhe der gesetzlichen Erwerbsminderungsrente zwar in den letzten Jahren verbessert, allerdings greife diese eben nur bei allgemeiner und nicht bei berufsspezifischer Arbeitsunfähigkeit. Außerdem seien die Abschläge dort in der Regel hoch, bemerkt Brosig und fordert: „Die staatliche Absicherung bei eingeschränkter Berufsfähigkeit sollte unserer Meinung nach in einem reformierten System als Berufsminderungsgeld wieder eingeführt werden. Wer dann nicht mehr im gewohnten Beruf und Umfang arbeiten kann, würde schon einmal zumindest einen Teil seiner Rente erhalten, um den verbleibenden Lohn zumindest zu ergänzen und insgesamt ein ordentliches Einkommen zu haben.“
Mit dem Wissen von heute hätte Michael Hübner einiges anders gemacht. „Ich war in all den Jahren nur dreimal krank. Diese Einstellung habe ich noch von meinem Vater“, erzählt der gebürtige Wismarer. Rückblickend denkt er: „Ich hätte mich auch zwischendurch einfach mal krankmelden und schonen sollen.“ Er sei immer absolut zuverlässig gewesen, auch wenn es mal um schwierige Aufträge ging. Zum Ende seines Erwerbslebens muss er feststellen: „Man hat mich eiskalt fallen lassen.“
Ein paar Wochen nach unserem Interview meldet sich Michal Hübner noch einmal bei uns: Er hat sich umgehört in seiner Firma, mit Kollegen gesprochen und eine Stelle ausgemacht, die für ihn infrage kommt –
und hat jetzt tatsächlich eine Wiedereingliederung in Aussicht gestellt bekommen. Seinem Arbeitgeber selbst war diese Möglichkeit trotz langer Gespräche nicht aufgefallen.
*Name geändert