Der digitale Wandel bringt neue Unternehmensformen hervor, deren Geschäftsmodelle nicht selten mit deutschem Arbeitsrecht in Konflikt stehen. Gerade in der sogenannten digitalen Plattformökonomie ist zum Beispiel von Mitbestimmung wenig zu hören. Die Konsequenz: Beschäftigte arbeiten oft prekär, Betriebsräte gibt es kaum.
Text: Daniel Kühn
Dabei sind die digitalen Plattformen in den letzten Jahren zu ständigen Begleitern im Alltag vieler Menschen geworden: Essen oder Einkäufe können über Lieferdienste bestellt, Musik und Filme online gestreamt, das Hotelzimmer oder eine Putzhilfe online gebucht werden. Plattformunternehmen vermitteln jedoch oft nur, sie bilden also keine eigene Branche, sondern ein branchenübergreifendes neues Geschäftsmodell. Der Vorteil der Plattformen: Die Dienstleistungen können flexibel, schnell und passgenau abgerufen werden. Doch so bequem die Plattformen wie Lieferando, Amazon oder Spotify für die Kundinnen und Kunden sind, so unbequem können sie für die Beschäftigten sein: digitale Überwachung, unsichere und oft schlecht bezahlte Arbeit sowie wenig Möglichkeiten, sich im Betrieb zu organisieren – so sieht die Realität für viele aus.
Die Plattform als digitale Infrastruktur Da sich digitale Plattformen in erster Linie als Vermittler verstehen, unterhalten sie neben ihrer Verwaltungszentrale kaum regionale Infrastrukturen, weshalb sie auch als „schlanke“ Plattformen bezeichnet werden.1 Denn das eigentliche Ziel solcher Plattformen ist schnelles Wachstum und das Sammeln von großen Mengen an Daten, um die Dienstleistungen noch passgenauer zu gestalten. Dabei arbeiten die Plattformen meist erst unprofitabel und wachsen nur auf Basis von Risikokapital. So schaffen Plattformunternehmen nicht nur neue Märkte, die Märkte gehören ihnen auch. Oft sind sie Monopolisten und wollen zu „unverzichtbaren Infrastrukturen“2 unseres (digitalen) Alltags werden. Lieferando etwa strebt in der Gastronomie eine ähnlich dominante Stellung an, wie Amazon sie als digitales Warenhaus bereits hat. Gewinner sind die digitalen Plattformen selbst. Zu den Verlierern zählen dagegen diejenigen, die die digitalen Güter produzieren.
Plattformen können allgemeinen Mehrwert erzeugen, setzen aber meist auf Risikowachstum und wenig Nachhaltigkeit.
Genaue Zahlen über die tatsächliche Größe von Plattformunternehmen sind schwierig zu erfassen. Klar ist aber, dass das Modell rasant wächst. Nach Schätzungen der EU sind die Umsätze von Plattformunternehmen zwischen 2016 und 2020 von 3 auf 14 Milliarden EUR angestiegen.3 Zudem wurde 2020 von rund 28 Millionen Beschäftigten ausgegangen, für 2025 rechnen Experten schon mit knapp 43 Millionen.4 Laut Schätzungen haben bislang knapp unter 4,4 Prozent der deutschen Erwerbstätigen schon einmal für eine digitale Plattform gearbeitet5 – das wären rund 2 Millionen Beschäftigte.6
Risikoverschiebung und polarisierte Beschäftigtenstruktur
Da das Wertschöpfungsmodell der Plattform-Unternehmen auf Daten und Risikowachstum basiert, verstehen sie sich auch nicht als Arbeitgeber mit entsprechender Verantwortung. Einen großen Teil der unternehmerischen Risiken reichen sie vielmehr an die Beschäftigten weiter. Diese müssen sich teils in weltweite Konkurrenz um digitale oder digital vermittelte Kleinstaufträge begeben und dabei häufig in Vorleistung gehen, wie etwa Designer, wenn sie an Ausschreibungen teilnehmen. Sie stellen ihre privaten Arbeitsmittel zur Verfügung, wie das eigene Smartphone, den Rechner oder das Fahrrad. Es gibt keinen definierten Betriebsort für informellen Austausch, keine feste Ansprechperson, keinen Betriebsrat. Dementsprechend sind Beschäftigte auch selbst für den Arbeits- und Gesundheitsschutz verantwortlich. Da die meisten nicht fest angestellt sind, gibt es für sie keine Lohnfortzahlung bei Krankheit, keinen Urlaub, keine Elternzeit.
Arbeitsprozesse werden in der Regel ohne direkte Kommunikation und über teil-automatisierte Software gesteuert –- was sich unter dem Schlagwort des algorithmischen Managements7 fassen lässt. Die Beschäftigten werden ständig digital überwacht und haben kaum Kontrolle über ihre persönlichen Daten. Somit sind Plattformbeschäftigte mehrfach fragmentiert: räumlich, organisatorisch und sozial.8 Häufig handelt es sich im Grunde um „unternehmerische Tätigkeit“9 unter prekären Vorzeichen, die oft in Scheinselbstständigkeit mündet.
So heterogen wie das Geschäftsmodell sind allerdings auch die Plattformarbeiterinnen und -arbeiter selbst. Auch hier findet sich die typische Polarisierung zwischen eher Hochqualifizierten wie Designern, Programmierern oder Marketing-Experten einerseits und Niedrigqualifizierten wie Fahrern oder Logistikarbeitern andererseits.10 Insgesamt sinkt in der Plattformökonomie die Qualität der beruflichen Standards. Selbst komplexe Tätigkeiten wie das Programmieren werden in prekäre Solo-Selbstständigkeit verschoben. Aus mittleren Tätigkeiten wiederum werden einfache Bestandteile herausgebrochen und in dequalifizierten Einzelaufträgen vergeben – wie das Fahren, das Sortieren von KI-Bildern oder das Fotografieren von Supermarktregalen.
Unternehmerisches Risiko wird von digitalen Plattformen weitestgehend nach unten an die Beschäftigten weitergereicht.
Die bisherigen empirischen Befunde für Deutschland zeigen: Der typische Plattformarbeiter ist männlich, lebt in einer größeren Stadt, ist jung und gut qualifiziert, hat keine Sorgeverpflichtungen, schätzt die Flexibilität der Kleinstaufträge und nutzt die Beschäftigung meist nur als Zusatzeinkommen, etwa neben dem Studium. Die wöchentliche Arbeitszeit beträgt ortsunabhängig circa 7,5 Stunden, ortsabhängig knapp unter fünf Stunden pro Woche.11 Demgegenüber steht ein wachsender Anteil an Plattformbeschäftigten, der sein geringes Haupteinkommen rein über plattformbasierte Arbeit erwirtschaftet. Für die meist wenig qualifizierten Beschäftigten stellt Plattformarbeit oft den einzigen niedrigschwelligen Zugang zum ersten Arbeitsmarkt dar. Insbesondere betrifft dies Plattformbeschäftigte mit Migrationshintergrund, die häufig nicht in der Lage sind, kollektive Interessen zu formulieren – ein Umstand, den offenbar viele Arbeitgeber gezielt ausnutzen.12 Hier warnt nicht nur der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) von der Formierung eines Schattenarbeitsmarktes von austauschbaren prekär Beschäftigten.13 Die Gefahr ist, dass durch die Akzeptanz solcher Arbeit die Standards für alle abgesenkt werden.
Betriebsräte oder Tarifverträge finden sich in der Plattformwelt nur selten. Häufig werden Betriebsratsgründungen angefochten oder Betriebsratsmitglieder gekündigt. Da die Beschäftigten jeweils ganz unterschiedliche Qualifikationen haben, auch unterschiedliche Tätigkeiten ausüben und zudem vereinzelt arbeiten, sind die Voraussetzungen für Betriebsratsgründungen eher schlecht. Dennoch lassen sich in den vergangenen Jahren vermehrt Arbeitskämpfe von Plattformbeschäftigten beobachten, die vor allem zu Beginn stark selbstorganisiert waren, da auch die Gewerkschaften zunächst kaum Ansatzpunkte für sich sehen konnten, weil Plattformbeschäftigte eben keine Belegschaften sind und keinen Betriebsort bestreiken können. Exemplarisch war hier der Streik beim Lieferdienst Gorillas in Berlin zwischen der selbstorganisierten Freien Arbeiter*innen-Union (FAU) und der Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft ver.di.14 Dass aber eine solche Integration gelingen kann, zeigen Initiativen wie „Liefern am Limit“, die nach selbstorganisiertem Start nun Teil der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG) sind.
Heutige Plattformarbeit sollte als Warnung dienen, die Messlatte für gute Arbeit nicht nach unten zu setzen.
Plattformarbeit regulieren – nächste Schritte?
- Rechtliche Regularien schaffen
Plattformbeschäftigte sind von der vermittelnden Plattform abhängig und sollten somit durch das Arbeitsrecht geschützt sein. Dazu müssen die arbeitsrechtlichen Begriffe von Betrieb und Arbeitnehmer modernisiert werden. Plattformen sollten mehr als nur Selbstverpflichtungen ein-gehen müssen, wie etwa den sogenannten Code of Conduct für Grundsätze des Crowdworkings. Der schlichte Verweis auf ein Geschäftsgeheimnis sollte nicht länger ausreichen, um sich der Arbeitgeberverantwortung zu entziehen. Plattformen könnten hingegen erweiterten Transparenzregeln oder Data-Sharing-Vorgaben unterworfen werden. Denkbar wären hier externe Zertifizierungen, deren Sichtbarkeit auch zusätzliche Orientierung für Verbraucher bieten könnte, wie die IG Metall es mit der Initiative FairCrowd-Work vorschlägt. Zudem könnte die Förderung alternativer Organisationsformen angedacht werden, wie derzeit aufkommende genossenschaftlich organisierte Plattformen zeigen.
- Mitbestimmung und Sozialpartnerschaft stärken
Da sich Plattformunternehmen der Logik einer sozialpartnerschaftlichen Aushandlung entziehen, sehen sich Gewerkschaften ungewohnten Heraus-forderungen gegenüber. Ohne Betriebsstätte und organisierte Beschäftigte sind sie zunehmend gezwungen, neue Wege zu gehen. Diese bestehen aus weniger Verhandlung, sondern früherem Arbeitskampf – dem Beispiel der von Bottom-up-Initiativen wie „Liefern am Limit“ folgend. Vorbild kann hier etwa Österreich sein, wo im Bereich der Essenslieferdienste bereits 2019 ein Tarifvertrag eingeführt wurde. So können Standards dafür sorgen, dass digitale Plattform- unternehmen nicht einfach durch Umstrukturie-rung per Mausklick betriebliche Mitbestimmung verhindern können, sondern Betriebsräte mit-bestimmen lassen müssen.
„Wir sind ein Dorn im Auge“
Tobias Horoschko fährt seit 2017 für den Essenslieferdienst Lieferando. Ab 2019 war er im überregionalen Betriebsrat, ab 2023 Betriebsratsvorsitzender in Bremen und jetzt ist er Mitglied des Gesamtbetriebsrats. Die Gründung des Bremer Betriebsrats musste er vor Gericht erstreiten.
Wie sind die Arbeitsbedingungen bei Lieferando?
Tobias Horoschko: Schwierig, die Leute werden alleingelassen, keiner fühlt sich verantwortlich für sie. Die circa 90 aktiven Rider, um die ich mich kümmere, geben sich untereinander Hilfestellung in selbst organisierten Chatgruppen. Die Arbeit wird genau überwacht, es ist alles getrackt. Datenschutz kennt Lieferando nur, wenn der Betriebsrat etwas wissen möchte.
Was sind häufige Probleme?
Wichtige Informationen erreichen die Beschäftigten nicht und es kommt häufig zu falschen Lohnabrechnungen oder Zeitabzügen – vor allem bei Minijobbern. Und vom lukrativen Boni-System haben nur diejenigen etwas, die Vollzeit fahren und Glück mit den algorithmisch geplanten Routen haben – der Rest verbleibt auf Mindestlohn-Niveau. Besonders hart trifft es Rider ohne gute Sprachkenntnisse, die können sich nur mit unserer Hilfe zurechtfinden. Hire and Fire – so lautet das Motto der Unternehmensleitung.
Wird die Betriebsratsarbeit behindert?
Als regionale Betriebsräte sind wir der zentral organisierten Plattform ein Dorn im Auge. Deshalb: Ja, das ist Union Busting im großen Stil. Ich muss um jede kleinste Kostenerstattung streiten, habe kein abschließbares Betriebsratsbüro – das könnte ja als Betriebsstätte interpretiert werden.
Warum machen Sie trotzdem weiter?
Es kommt immer noch mehr zurück als ich gebe. Und immerhin hat es Fortschritte gegeben: Die Einführung von Verschleißpauschalen oder die Möglichkeit, die letzte Fahrt vor Feierabend abzulehnen. Inzwischen sind auch viele Rider in Bremen schon länger dabei und mit rund 33 Prozent haben wir einen ordentlichen gewerkschaftlichen Organisationsgrad – die NGG unterstützt uns.
Literatur
Baethge, Catherine Bettina et al. (2019): Plattformarbeit in Deutschland. Freie und flexible Arbeit ohne soziale Sicherung. Bertelsmann Stiftung
Bundesministerium für Arbeit und Soziales (2022): Arbeitspapier: Daten und Gute Arbeit – Algorithmisches Management im Fokus, Zugriff am 24.01.2024
Deutscher Gewerkschaftsbund (2021): DGB-Positionspapier: Regeln für Plattformarbeit, Zugriff am 12.01.2024
Europäische Kommission (2021a): Digital labour platforms in the EU. Mapping and businness models, Zugriff am 15.01.2024
Europäische Kommission (2021b): Study to support the impact assessment of an EU initiative to improve the working conditions in platform work, Zugriff am 22.01.2024
Ewen, Janis (2023): Schluss mit ausgeliefert? Tarifpolitik in der plattformvermittelten Lieferarbeit. In: PROKLA 211 53(2), S. 289-304
Ewen, Janis/Heiland, Heiner/Seeliger, Martin (2022): Dynamiken autonomer Arbeitskonflikte im digitalen Kapitalismus: Der Fall „Gorillas“. In: Schriftenreihe Institut Arbeit und Wirtschaft Nr. 33 Zugriff am 17.01.2024
Piasna, Agnieszka; Zwysen, Wouter; Drahokoupil, Jan (2022): The platform economy in Europe, Zugriff am 18.01.2024
Pongratz, Hans J. (2023): Plattformarbeit: Zwischenbilanz und Perspektiverweiterung. In: WSI-Mitteilungen 76(5), S. 355-364
Srnicek, Nick (2018): Plattform-Kapitalismus
Staab, Philip (2019): Digitaler Kapitalismus. Markt und Herrschaft in der Ökonomie der Unknappheit
Fußnoten
1 Vgl. Srnicek (2018); 2 Altenried/Dück/Wallis (2021), S. 51; 3 Europäische Kommission (2021a), S. 8.; 4 Europäische Kommission (2021b), S. 6.; 5 Piasna/Zwysen/Drahokoupil (2022), S. 17.; 6 Eigene Berechnung nach Daten des Statistischen Bundesamtes; 7 Vgl. Bundesministerium für Arbeit und Soziales (2022); 8 Vgl. Ewen (2023).; 9 Pongratz (2023), S. 362.; 10 Ohnehin sind die vergleichsweise wenigen Beschäftigten, die bei der Plattform selbst beschäftigt sind und somit nicht die eigentliche vermittelte Plattformarbeit verrichten, traditionelle und deutlich überdurchschnittlich entlohnte Beschäftigte mit umfassender Absicherung.