Eine Collage aus drei Fotos: eine Kita-Erzieherin, eine Altenpflegerin und ein Krankenpfleger.

"Ein tief verwurzeltes Problem"

Interview mit Geschäftsführerein Elke Heyduck zu Care-Berufen

Die Arbeitsbedingungen – gerade in Krankenhäusern – rückten aufgrund der Corona-Krise in den Fokus der Öffentlichkeit. Doch noch immer geschieht zu wenig, um die sogenannten „Care-Berufe“ aufzuwerten und so dem steigenden Fachkräftemangel in der Pflege und der Kinderbetreuung zu begegnen. Die Leidtragenden sind vor allem Frauen. Fragen an die Leiterin der Politikberatung Elke Heyduck.

Elke Heyduck, Leiterin der Politikberatung und Geschäftsführerin der Arbeitnehmerkammer

Fragen: Simone Schnase
Fotos: Kay Michalak, Jonas Ginter
1. Mai 2023

Frau Heyduck, man sagt ja, dass Krisen wie die Betrachtung struktureller Probleme durch eine Lupe sind. Welche Probleme sind aus Ihrer Sicht am deutlichsten geworden?

Elke Heyduck: Wir haben während der Corona-Krise die sogenannten „Care-Berufe“ durch diese Lupe gesehen. Deutlich wurde, dass sie nicht angemessen bezahlt werden und ihre gesellschaftliche Anerkennung nicht ihrer Bedeutung entspricht. Nun droht aber die Gefahr, dass die akuten Krisen, die Energie- und Ukraine-Krise, die schleichende Care-Krise überlagern.

Hatten Sie das Gefühl, dass das während der Corona-Krise anders war?

Mit Care-Arbeit meinen wir ja im Wesentlichen die Pflege und die Kinderbetreuung. Das Thema Arbeitsbedingungen in der Pflege hatte eine Prominenz, die ich vorher so nicht erlebt habe. Auch wurde deutlich, dass ohne Kitas eigentlich auch der Rest des Wirtschaftslebens nicht aufrechtzuerhalten ist. Ja, ich hatte das Gefühl, dass hier mindestens die politische Sichtbarkeit größer war. Zum Teil gibt es ja auch Konsequenzen: Weil die Pandemie gezeigt hat, dass die Personalengpässe in den Kliniken eine ausreichende Versorgung nicht gewährleisten können, wird nun auch in den Krankenhäusern ein Personalbemessungsinstrument eingeführt. Ein Wortungetüm, aber am Ende soll es mehr Fachkräfte in die Kliniken bringen. Aus unserer Sicht kommt die Einführung zwar immer noch zu spät und es gibt noch ein paar Haken, aber ohne Corona wäre es wohl noch später geworden.

Sprechen wir erst über die Kinderbetreuung: Wie groß ist dort der Fachkräftemangel?

So groß, dass eigentlich jedem klar sein muss, dass wir diese Berufe attraktiver machen und aufwerten müssen. Laut Familienministerium fehlen 72.000 Fachkräfte in den Kitas, das unterschätzt den Bedarf aus unserer Sicht noch. Für Bremen gibt es eine Schätzung, dass hier bis 2030 mindestens 1.500 Fachkräfte fehlen. Im Ergebnis gibt es hier zu wenig Betreuungsplätze und zu wenig zeitliche Flexibilität, wodurch Bremen im Bundesvergleich sehr schlecht abschneidet. 

Was wird dagegen unternommen?

Es werden viele Wege beschritten, ich möchte mich hier aber auf das Thema Ausbildung beschränken. Denn da fängt es an, ob ein Beruf aufgewertet wird oder nicht. In Bremen, aber nicht nur hier, werden Erzieherinnen fünf Jahre schulisch aus- beziehungsweise weitergebildet. Sie sind Schülerinnen, keine Azubis mit Arbeitnehmerrechten und einem Gehalt. Weil man eingesehen hat, dass das ein merkwürdiges Konstrukt ist, wurde ein dualer Ausbildungsgang entwickelt – mit einem Ausbildungsvertrag und einer tariflichen Entlohnung. In Bremen nennt sich das PiA, für praxisintegrierte Ausbildung. Die 50 PiA-Plätze, die Bremen zur Verfügung stellt, sind immer ausgebucht und haben übrigens auch einen höheren Männerteil. Dieser Weg muss unbedingt verbreitert werden, aber die Realität ist leider eine andere.

Inwiefern?

Weil die Ausbildungsvergütung für diese Azubis teuer ist, wurde ein Kniff gefunden, um dennoch eine halbwegs gute Bezahlung zu organisieren: Die Erzieherinnen werden weiter an der Schule ausgebildet und bekommen Aufstiegs-BAföG – und das zahlt der Bund. Damit sind sie aber immer noch Schülerinnen ohne arbeitsrechtlichen Status, ohne „echtes“ Gehalt. Aufwertung geht anders und wir fordern als Kammer die deutliche Ausweitung der dualen Ausbildung, denn sie muss am Ende zum Standard werden. Zudem werden in Bremen nun auch Kindertagespflegepersonen als Zweitkraft anerkannt. Sie machen sicher einen guten Job, aber ihre Ausbildung ist längst nicht so umfangreich wie die der Sozialassistentin oder Erzieherin. Auch das wertet den Beruf also nicht wirklich auf. 

Aber mit diesem Konzept kann man auf den akuten Fachkräftemangel schnell reagieren – ist das nicht sinnvoll?

Wir als Arbeitnehmerkammer haben zwar Verständnis dafür, dass man auch mal nach schnellen Lösungen in akuten Krisen sucht wie zum Beispiel mit Blick auf die Kinder der Ukraine-Geflüchteten: Diese Kinder müssen wir in unser Betreuungssystem integrieren. Aber die Fachkräftekrise gibt es ja nun seit Langem und wir werden sie nicht ad hoc lösen können. Die Gefahr ist groß, dass wir die „Krückenmodelle“ verstetigen.

Woran liegt es, dass in diesem Bereich so wenig Aufwertung stattfindet?

Da steckt ein tief verwurzeltes strukturelles Problem dahinter. Immer noch begegnen mir Menschen, darunter hochrangige politische Persönlichkeiten aus Bremen, die sagen: „Na ja gut, so eine Frau, die Kinder betreut, die ruft ja nicht in jeder Minute ihre Ausbildungsinhalte ab.“ Da muss ich doch mal sagen, das zieht mir die Schuhe aus, denn ein ITler ruft ja auch nicht jede Minute seine Ausbildung ab! Die Wertschätzung dafür, dass die Erzieherinnen und Erzieher einen Beruf ausüben, der sehr, sehr viele Fachkenntnisse braucht, der Förderbedarfe erkennt, Bildungsbiografien einfädelt und für den zudem eine hohe emotionale und soziale Kompetenz benötigt wird, ist noch immer nicht angekommen. Das Gleiche gilt übrigens auch für den Bereich Pflege.

Mit der Folge, dass es auch hier zu wenig echte Aufwertung gibt?

Letztlich ja. Auch hier haben wir ja schon akuten Personalmangel und der wird sich angesichts des demografischen Wandels dermaßen zuspitzen, dass die Lösung, zumindest für die Altenpflege, hier ebenfalls der Einsatz von Assistenzkräften ist. Wir haben das als Arbeitnehmerkammer letztlich akzeptiert, aber wir fordern unbedingt, dass auch die Assistenzkräfte generalistisch und zweijährig ausgebildet werden – nur dann können sie sich aussuchen, ob sie in der Kranken- oder der Altenpflege arbeiten möchten. Außerdem muss die Assistenzkraft auch eine unkomplizierte Möglichkeit haben, zur Fachkraft aufzusteigen. Sonst produzieren wir eine berufliche Sackgasse für sehr viele Frauen! Leider hat Bremen hier noch kein zukunftsfähiges Modell gefunden. 

Wie sollte das vor dem Hintergrund der generalistischen Pflegeausbildung, die eine Assistenzausbildung ja gar nicht beinhaltet, aussehen?

In der Tat ist die generalistische Ausbildung im Pflegeberufegesetz geregelt, die Assistenzausbildung aber Ländersache. In Bremen hat man gerade die Verlängerung einer einjährigen Ausbildung zur Pflegefachhelferin beschlossen und wird damit den Ansprüchen an eine echte generalistische Ausbildung nicht gerecht. Es ist aber zu vermuten, dass die Einrichtungen auch ein Interesse an einjährig Ausgebildeten haben – sie sind schneller fertig. Da spielt natürlich auch die Finanzierung eine Rolle: Personal in der Altenpflege darf – ich drücke es zugespitzt aus – nicht zu viel kosten. Und immer noch verdient eine Altenpflegefachkraft in Bremen 500 Euro weniger als eine Pflegefachkraft im Krankenhaus.

Der Bremer Gesundheitsökonom Heinz Rothgang, der die Personalbemessung ja entwickelt hat, plädiert zur besseren Finanzierung für den sogenannten „Sockel-Spitze-Tausch“. Unterstützen Sie das?

Auf jeden Fall! Denn jetzt ist es so, dass ein Mehr an Personal oder bessere Bezahlung auf die Heimbewohner abgewälzt wird. Sockel-Spitze-Tausch heißt hingegen, ich zahle eine feste Summe für meinen Heimplatz und alles, was teurer wird, also auch mehr und besser bezahlte Pflegekräfte, finanziert die Pflegeversicherung. Eine Erhöhung der Pflegeversicherungsbeiträge wäre dann wohl unvermeidlich, aber dafür kann ich mich später auf die Kosten verlassen. Außerdem plädieren wir für eine Bürgerversicherung, in die auch Beamte oder Selbstständige einzahlen. Damit hätten wir eine ganz andere Finanzierungsbasis und die Kosten würden sich in Grenzen halten. 

Wie viele Menschen versorgen ihre Angehörigen lieber zu Hause?

In Bremen gibt es 42.000 Pflegebedürftige, von denen 86 Prozent zu Hause versorgt werden. Aktuell hat bundesweit mehr als jeder zehnte Beschäftigte Pflegeaufgaben gegenüber alten Menschen. Viele reduzieren deswegen irgendwann ihre Arbeitszeit. Wir ziehen also Fachkräfte – häufig Frauen! – vom Arbeitsmarkt ab, weil die Pflegeinfrastruktur nicht ausreicht. Und man kann gar nicht oft genug betonen, dass das Problem aufgrund des demografischen Wandels ja noch viel, viel größer wird. 

Gibt es denn kleine Lichtblicke für die nähere Zukunft?

Die Krankenhausreform, die Karl Lauterbach jetzt angestoßen hat, ist vielleicht ein kleiner Lichtblick – die Abkehr von den Fallpauschalen, die Einführung von bedarfsgerechter Personalbemessung. Das alles muss aber in größeren und schnelleren Schritten erfolgen. Die Finanzierung des Pflegesystems muss sich verbessern, daran hängt einfach vieles. Wir müssen die Ausbildungen und die Verdienste verbessern und aufwerten. Mit all dem wächst auch die gesellschaftliche Anerkennung und Eltern können ihren Kindern guten Gewissens empfehlen: Geht doch in die Pflege, da macht ihr sinnvolle und anspruchsvolle Arbeit! 

Wie viele ehemalige Pflegekräfte würden unter besseren Bedingungen in ihren Beruf zurückkehren?

Es wären so viele, dass ein großer Teil des Fachkräfteproblems gelöst wäre: Unsere Studie „Ich pflege wieder, wenn …“ hat ergeben, dass es bundesweit mindestens 300.000 Pflegekräfte gibt, die in ihren Beruf zurückkehren würden, wenn die Arbeitsbedingungen sich verbessern. Doch wenn weiter alles auf die lange Bank geschoben wird, endet das in einer Care-Katastrophe.