„Die Modelle müssen die Ängste breiter Bevölkerungsschichten aufgreifen“

Prof. Dr. Karl-Werner Brand zum Thema Postwachstum oder „Green Deal“ gegen die Klimakrise

November 2022

Postwachstum oder „Green Deal“: Welcher Wandel ist möglich und wie kann er gelingen? Im ersten Teil unserer Ringvorlesung„Wirtschaft und Sozialstaat im Klimawandel“ ging es um die Voraussetzungen und Erfolgsaussichten für weitreichende Veränderungen, die zur Bewältigung des Klimawandels notwendig erscheinen.

Nach Umweltkatastrophen wie im Ahrtal ist immer wieder kurzzeitig die Bereitschaft für große Veränderungen zu spüren  bis sie wieder in Vergessenheit geraten. Ist unsere Gesellschaft bereit für die dauerhaft nötigen Transformationen in der Klimakrise?

Prof. Dr. Karl-Werner Brand: Grundsätzlich ja. Die Klimaproblematik wird, zumindest in Deutschland, von einem Großteil der Bevölkerung für ein sehr dringliches Problem gehalten. Das Problem ist aber zum einen, dass immer nur einzelne Gruppen und Regionen von Extremereignissen existenziell betroffen, alle anderen aber nur – emotional mehr oder weniger betroffene – Zuschauer sind. Die Klimakrise ist nicht die einzige Krise – und auf der Alltagsebene ohnehin durch viele andere, meist sehr viel aktuellere Sorgen überlagert. Daraus erwächst ein sehr widersprüchliches Geflecht von Handlungsbereitschaften und persönlichen Dringlichkeiten, die oft in gegensätzliche Richtungen weisen und etablierter Denk- und Handlungsmuster eher weiter stabilisieren.  

Zum anderen ist ja die Frage, welche Veränderungen als notwendig erachtet werden, für welche Veränderungsmaßnahmen eine hohe oder geringe Akzeptanz besteht. Auch wenn über das Ziel, baldmöglichst „klimaneutral“ zu werden, ein breiter Konsens besteht, so sind die damit verbundenen gravierenden Veränderungen in den verschiedenen Feldern wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lebens vermutlich doch nur den wenigsten bewusst; das ist eine stark von Experten geprägte Debatte. Auf der konkreten Handlungsebene, in der regionalen oder lokalen Umsetzung der geforderten Energie-, Mobilitäts-, Agrar- oder und Ernährungswende entstehen so, trotz eines diffusen Zielkonsenses, meist massive Konflikte über die geplanten klimapolitischen Maßnahmen.

Problem sozialer Ungleichheiten

Diese Konflikte erwachsen aus unterschiedlichen Betroffenheiten durch die jeweiligen Maßnahmen, aus unterschiedlichen organisations- und gruppenspezifischen Interessenlagen, aus unterschiedlichen, milieuspezifischen Orientierungsmustern und Lebensstilen, aber auch aus einem weit verbreiteten politischen Misstrauen. Diese Konflikte sind meist auch mit dem Problem sozialer Ungleichheiten verknüpft, die sich durch die geplanten ökologischen Umbaumaßnahmen noch einmal verstärken – wenn solche Ungleichheiten nicht gezielt durch komplementäre Maßnahmen bekämpft werden.

Die offizielle, von der EU ausgerufene Antwort lautet Green Deal. Reichen die hier vorgesehenen Maßnahmen und Anreize aber aus? Muss die Politik nicht umfassender regulieren und fördern  und mit welchen Ansätzen?

Wie immer sind die internationalen politischen Programme, sei es die im Rahmen der Agenda 2030 auf UN-Ebene verabschiedeten Nachhaltigkeitsziele oder der auf EU-Ebene 2021 beschlossene „Green Deal“ mit hoher moralischer Emphase in weitreichenden, wohlklingenden Zielen formuliert. So soll die EU bis 2050 zum ersten klimaneutralen Staatenbund der Welt werden. Das setzt auf der einen Seite hohe Ansprüche, die die Mitgliedsstaaten unter Handlungsdruck setzen und deren Einlösung von zivilgesellschaftlichen Akteuren und Bewegungen auch mehr oder weniger radikal eingefordert werden kann, wenn die Umsetzung hinter den proklamierten Zielen zurückbleibt. Und das tut sie mit ziemlicher Sicherheit. Weder bewegt sich die Reduktion von Treibhausgasemissionen noch die Entwicklung einer Kreislaufwirtschaft oder die Umsetzung nachhaltiger Mobilität (mit Ausnahme des Umbaus hochpreisiger Benziner und Diesel-Autos auf Elektroantrieb) auf Kurs. Auch wenn die Umsetzung des Green Deals mehr an Fahrt gewinnen sollte und die technischen Optionen konsequenter genutzt werden, bleiben allein aus technischen Gründen sowohl die Vision einer (ernstgemeinten) Kreislaufwirtschaft als auch die Deckung des rasant steigenden Strombedarfs bis 2050 durch regenerative Energien weitgehend Wunschdenken.

Krisen überlagern sich

Dass von Regierungen derzeit, in Europa wie in anderen Regionen der Welt, aber grundsätzlich andere Strategien als die Innovationsstrategie einer beschleunigten Dekarbonisierung und des ökologischen Umbaus der Wirtschaft verfolgt werden könnten, erscheint gleichwohl sehr unwahrscheinlich. Nicht nur China definiert wirtschaftliche Entwicklung als „Menschenrecht“ – und das meint wirtschaftliches Wachstum im herkömmlichen, wenn auch ökologisch modernisierten Sinn. Die Frage ist eher, wie konsequent die selbst gesetzten Klima- und Umweltziele gegenüber konkurrierenden Zielsetzungen, (Energiesicherheit, wirtschaftliches Wachstum, Wohlstand, Arbeitsplätze etc.), angesichts sich überlagernder multipler Krisen und wachsender innenpolitischer Gegenbewegungen verfolgt werden können. Ob dazu marktwirtschaftliche Instrumente oder andere Regulierungsformen genutzt werden, erscheint mir demgegenüber sekundär. Wachsende Defizite in der Zielrealisierung und sich häufende dramatische Folgen des Klimawandels erhöhen generell den Druck, konsequentere  Maßnahmen zu ergreifen.

Eine mögliche Alternative heißt „Postwachstum“, also eine Verringerung von Konsum und Produktion. Was müssten wir dabei von unserem Wohlstand aufgeben?

Postwachstumstheoretiker haben in den vergangenen Jahren viel Energie darauf verwendet, deutlich zu machen, dass der bisherige, auf das Wachstum des BIP bezogene Maßstab für gesellschaftlichen Wohlstand grob in die Irre führt. Er ist weder objektiv noch subjektiv mit steigendem „Wohlergehen“ verbunden. Das BIP misst in wachsendem Maße nur noch die ökologischen Reparaturkosten des überkommenen Wachstumsmodells. Das in den vergangenen Jahrzehnten dominante neoliberale Modell globalen kapitalistischen Wachstums ging darüber hinaus mit einer drastischen Verschärfung sozialer Ungleichheiten einher. Historisch gesehen ist es ein auf dem Rücken des globalen Südens errichtetes, global nicht verallgemeinerbares Wohlstandsmodell. Unter Bedingungen wachsender ökologischer Bedrohungen und sich verschärfender sozialer Ungleichheiten bemisst sich „Gutes Leben“ deshalb heute an anderen Kriterien als denen eines stetigen Wachstums an marktförmigen Gütern und Dienstleistungen.

Bedingungen für ein menschenwürdiges Leben sicherstellen

Lässt sich wirtschaftliches Wachstum durch technische Effizienz- und Konsistenzsteigerungen zwar partiell, aber nicht grundsätzlich von wachsendem Naturverbrauch und wachsender Naturzerstörung entkoppeln (wovon Postwachstumstheoretiker ausgehen), dann ist wirtschaftliche Schrumpfung unverzichtbar, um die Bedingungen für ein menschenwürdiges Leben innerhalb der „planetaren Grenzen“ sicherzustellen. Das kann freiwillig und gezielt, im Rahmen eines an neuen Leitbildern gesellschaftlicher Entwicklung orientierten politischen Umbaus von Wirtschaft, Gesellschaft und Sozialsystemen geschehen oder es passiert – früher oder später – naturwüchsig, im Gefolge globaler Umweltkatastrophen, wirtschaftlicher Zusammenbrüche und Kriege.

Wie realistisch ist es, dieses Konzept in unserer kapitalistisch geprägten Gesellschaft umzusetzen, auch mit Blick auf das Ausland?

Wie die im Rahmen der Postwachstumsdebatte anvisierten Umbaumaßnahmen unter Bedingungen schrumpfender Staatshaushalte sozial gerecht und ohne tiefgreifende gesellschaftliche Verwerfungen erreicht werden können, ist bislang nicht geklärt. Offen ist auch die Frage, ob dies das Ende oder nur eine grundlegende Reform des Kapitalismus bedeutet (was ich für viel wahrscheinlicher halte).

Nachhaltigkeitstransformationen in Richtung „Postwachstumsgesellschaft“ werden sicher nie mehrheitsfähig, solange sie nur unter dem Label von Wohlstands- und Konsumverzicht laufen. Für die große Mehrheit stellt „Degrowth“, das Schrumpfen von Wirtschaft, Einkommen und Konsum, primär eine Bedrohung dar. Die Lebensentwürfe der meisten Menschen in den westlichen, hoch industrialisierten Ländern sind auf stabile oder wachsende Einkommen ausgerichtet.

Vor dem Hintergrund wachsender ökologischer, sozialer, ökonomischer und politischer Krisenerfahrungen werden Postwachstumsmodelle deshalb nur dann eine breitere Resonanz finden, wenn sie die Ängste und Bedürfnisse breiter Bevölkerungsschichten aufgreifen, wenn sie überzeugende Antworten auf die aktuellen Problem- und Krisenlagen (Verringerung der Bedrohungen, mehr Schutz, Sicherheit und Vorsorge), aber auch attraktive Visionen für ein „gutes Leben“ nach der Krise bieten. Das setzt auch eine immer breitere Erprobung alternativer, gemeinwohlorientierter und umweltverträglicher Lebens-, Arbeits- und Wirtschaftsmodelle voraus. Diese – sich allenthalben verbreiternden – Netzwerke von Nischenmodellen zeigen, dass es auch heute, unter modernen Bedingungen, anders gehen kann. Sie bieten die Möglichkeit, im Krisenfalle und unter günstigen politischen Bedingungen auf solche Modelle zurückzugreifen und sie zur Grundlage neuer institutioneller Regulierungsformen zu machen.

Es gibt keine Blaupausen

Das gelingt unter demokratischen Bedingungen, im politischen Machtkampf konkurrierender Akteure, immer nur unter Abstrichen. Die Grenzen zwischen „Green Growth“ und Postwachstumsstrategien verwischen sich dabei. Neue, umweltverträglichere technische Infrastrukturen verändern immer auch soziale Handlungsmuster und Beziehungsformen. Konsequente ökologische Umbauprozesse im Energie-, Bau-, Mobilitäts- und Stadtentwicklungsbereich, im Bereich von Ernährung und Landwirtschaft schaffen so immer auch neue Chancen für die Entwicklung und Erprobung weiterreichender sozialer Transformationen – schon allein deshalb, weil es für den ökologischen Umbau moderner, Industriegesellschaften keine Blaupause gibt und er deshalb auch nicht „top down“ durchgesetzt werden kann. Umfassende sozial-ökologische Strukturreformen benötigen nicht nur eine breite demokratische Legitimation, sie leben auch von der Fülle zivilgesellschaftlicher Initiativen und einer breiten Kooperationsbereitschaft.

Degrowth-Bewegungen bleiben der Stachel im Fleisch widersprüchlicher, immer wieder blockierter Reformprozesse. Und sie machen darauf aufmerksam, dass Gerechtigkeitsfragen, die Reduktion der sowohl global als auch national auf ein unerträgliches Maß angewachsenen sozialen Ungleichheiten eine unverzichtbare Voraussetzung für den Erfolg des sozial-ökologischen Umbaus moderner Industriegesellschaften sind. Sie setzen damit den Umbau kapitalistischer Wirtschafts- und Gesellschaftsstrukturen auf die Tagesordnung.

Insgesamt haben sozial-ökologische Transformationsprozesse inzwischen weltweit zwar an Fahrt aufgenommen. Ob sie aber in hinreichender Geschwindigkeit und der nötigen Radikalität erfolgen, um Katastrophen größeren Ausmaßes, um dramatische gesellschaftliche Verwerfungen und Zusammenbrüche zu verhindern, ist eine offene Frage. Optimismus ist zwar nötig, aber nicht unbedingt angebracht.

Karl-Werner Brand ist emeritierter Professor für Soziologie und hat sich jahrzehntelang intensiv mit gesellschaftlichen Transformationsprozessen beschäftigt, seit einiger Zeit schwerpunktmäßig mit Blick auf umweltpolitische Fragestellungen.