Zwei Männer arbeiten in einer Tischlerwerkstatt

„Wir sollten die Bildung feiern!“

Am 8. September ist der Weltalphabetisierungstag. Er erinnert daran, dass mehr als sechs Millionen Menschen in Deutschland nicht richtig lesen und schreiben können. In Bremen sind laut einer repräsentativen Studie mindestens 50.000 Menschen betroffen. Die Arbeitnehmerkammer engagiert sich schon seit 1982 für die Grundbildung.

Fragen: Jan Zier
Foto: Canva/Getty Images

30. August 2023

Frau Achenbach, wie viele Menschen in Bremen können nicht richtig lesen und schreiben?

Susanne Achenbach: Laut der repräsentativen LEO-Studie von 2018 sind es mindestens 50.000 Menschen – das sind zwölf Prozent der Gesamtbevölkerung. Hierbei sind nur die deutschsprachigen Erwachsenen im Alter zwischen 18 und 64 erfasst, die Nicht-Deutschsprachigen kommen noch hinzu. In der Stadt Bremen sind mehr als 42.000, in Bremerhaven mehr als 8.000 Menschen betroffen. Wenn wir auf die jüngsten Untersuchungen zu den Lese- und Schreibdefiziten in der Schule nach der Pandemie blicken, wird sich das perspektivisch vermutlich auch nicht so schnell verbessern.

Was wissen wir über diese Gruppe?

Insgesamt leben in Deutschland über 6,2 Millionen Menschen, die von funktionalem Analphabetismus betroffen und damit von der gesellschaftlichen Teilhabe weitgehend ausgeschlossen sind. Davon ist für rund 3,2 Millionen Menschen Deutsch die Herkunftssprache, die übrigen haben eine andere Erstsprache. Unter den Erwerbstätigen sind es laut der LEO-Studie etwa zehn Prozent, die nicht richtig lesen und schreiben können. Das sind über 44.000 Menschen in Bremen. Es steht aber zu befürchten, dass sie eher in prekären Jobs mit schwierigen Arbeitsbedingungen und schlechter Bezahlung tätig sind – Arbeit, die keinen Aufstieg ermöglicht. Weiterbildung ohne ausreichende Schriftkenntnisse ist kaum denkbar. Und unter den Arbeitslosen und Erwerbsunfähigen ist fast jeder Dritte betroffen.

Woher kommt der funktionale Analphabetismus in unserer Gesellschaft?

Das ist eine schwere Frage! Ein großes Problem ist es, dass wir erwachsene Betroffene kaum noch erreichen – für sie ist Bildung eher ein rotes Tuch als etwas Erstrebenswertes. Das hat vermutlich sehr viel mit negativen Erfahrungen beim Lernen und im Bildungssystem zu tun. Viele Betroffene geben sich selbst zu Unrecht die Schuld an ihrem „Versagen“ an einer scheinbar kinderleichten Herausforderung. Wer permanent Misserfolge erlebt, traut sich selbst wenig zu und zieht sich zurück. Unser Bildungssystem ist nicht ausreichend darauf ausgerichtet, Kinder, die es schwer haben, auf die vorgegebene Art lesen und schreiben zu lernen, vielfältig und kreativ zu unterstützen. Dabei gibt es tolle Ansätze, die in anderen Ländern seit Jahrzehnten gelebt werden. Mir geht es darum, schon im Kindergarten und in der Familie die Faszination zu vermitteln, sich durch Schrift mit anderen zu verständigen und Nähe zu schaffen. Menschen wollen sich mitteilen, sie brauchen Nähe. Lesen, Vorlesen, Schreiben ist da ein wunderbares Werkzeug. Auch die Unternehmen und andere gesellschaftlichen Akteure sollten sich hier engagieren und die Bildung feiern.

Wie kann man Betroffene erreichen?

Das ist sehr schwer, Information allein reicht da nicht. Die Ansprache der Betroffenen ist nicht ohne Grund eines der wichtigsten Ziele der Dekade für Alphabetisierung und Grundbildung, die 2016 begann. Als ein Weg wären gut gestaltete Flyer denkbar, doch schon Fotos von Bücherstapeln können das Gegenteil bewirken und Überforderung triggern. Oft sind es die Schaltstellen im Leben, an denen man Betroffene erreichen kann – wenn plötzlich jene Menschen fehlen, die sonst geholfen haben, wenn der Arbeitsplatz verloren geht oder ein Kind oder Enkelkind geboren wird. Am Ende kommen jedoch nur ganz wenige Menschen in den Kursen an.

Tut Bremen genug für die Alphabetisierung?

Hier ist viel Luft nach oben. Es ist sehr gut, dass Bildungs-, Arbeits- und Sozialressort sich des Problems grundsätzlich bewusst und mit Programmen und Projekten unterwegs sind. Leider wird das Problem mit all seinen Folgen in der Politik nicht so wahrgenommen, wie es nötig ist, und im Koalitionsvertrag hat es nicht die Priorität, die wir uns wünschen. Ich halte niedrigschwellige Projekte für wichtig, die in den Quartieren ansetzen – in Familienzentren, Begegnungsstätten, am Arbeitsplatz.

Ist das Thema ein Tabu bei Arbeitgebern?

Ja, weitgehend. Nicht nur die Betroffenen schämen sich, auch die Betriebe wollen nicht gern zugeben, dass das Problem sie etwas angeht. Bestehende Angebote für die Arbeitswelt werden oft nur sehr zögerlich angenommen. Da braucht es selbstbewusste Unternehmen und verständnisvolle Kolleginnen und Kollegen. Auch hierfür gibt es gute Beispiele. Wichtig ist: Niemand darf gegen seinen Willen am Arbeitsplatz geoutet werden.

Was können und müssen Betriebe tun – gerade mit Blick auf die fortschreitende Digitalisierung?

Sie müssen weitaus offener werden für die Fortbildung auch ihrer weniger qualifizierten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Auch Betriebs- sowie Personalräte und Interessenvertretungen sollten sich verstärkt des Themas annehmen. Es ist noch ein langer Weg, bis das Thema selbstverständlich in allen Köpfen ist.

Welche konkrete Maßnahme empfehlen Sie einem Betrieb, der glaubt, dass Beschäftigte betroffen sind?

Wenn man einzelne Beschäftigte mit potenziellem Grundbildungsbedarf ansprechen möchte, sollte man sich zuvor beraten lassen. Es gibt für Unternehmen, die ein Bildungsangebot machen möchten, mehrere gute und kostenlose Optionen in Bremen, etwa die „Servicestelle Alphabetisierung und Grundbildung“, die grundlegend berät. Das Projekt „AlphaGrund vernetzt“ bietet Unternehmen passgenaue Lernangebote für Gruppen im Betrieb an. Die ersten 26 Unterrichtseinheiten sind kostenlos, zusätzlich gibt es Unterrichtsmaterialien kostenfrei zum Download. Auch die „Servicestelle Deutsch am Arbeitsplatz“ macht ein individuelles Angebot, das unter anderem darauf hinwirkt, sprachliche Kommunikation allgemein verständlicher und effektiver zu gestalten. Wenn es um Mitarbeitende geht, deren deutsche Sprachkenntnisse noch sehr gering sind, empfiehlt sich die „Koordinationsstelle Sprache des Landes Bremen“. Betriebs- und Personalräte können sich auch gern bei der Arbeitnehmerkammer melden.

 

Susanne Achenbach ist Referentin für Bildung und Ausbildung bei der Arbeitnehmerkammer Bremen