Behinderte Menschen haben es nach wie vor oft schwer, einen Arbeitsplatz zu finden. Positives Gegenbeispiel sind die Inklusionsbetriebe im Land: Sie zeigen, dass die Zusammenarbeit zwischen Menschen mit und ohne Behinderung in der Praxis hervorragend funktioniert. Für Chancengleichheit auf dem Arbeitsmarkt braucht es aber verstärkte Bemühungen.
Text: Anne-Katrin Wehrmann
Foto: Jonas Ginter
28. Februar 2023
Die Kommunikation klappt super“, sagt Simone Juchem. Was längst nicht an allen Arbeitsplätzen eine Selbstverständlichkeit ist, ist bei ihr noch einmal eine besondere Bemerkung wert: Die 49-Jährige ist gehörlos und das schon von Geburt an. Dank eines Cochlea- Implantats, einer elektronischen Hörprothese, ist sie nicht komplett taub. Um ihre Kolleginnen und Kollegen zu verstehen, ist sie allerdings darauf angewiesen, dass diese deutlich sprechen und sie dabei anschauen. „Hier wissen alle, wie sie mit mir umgehen müssen, darum gibt es da überhaupt keine Probleme“, erzählt die ausgebildete Kommunikationselektronikerin.
Juchem stammt gebürtig aus dem Saarland und arbeitete dort zunächst für die Telekom, später im Ford-Werk Saarlouis. 2016 beschloss sie, nach Bremen zu ziehen – um noch einmal eine andere Ecke Deutschlands kennenzulernen, wie sie sagt. Einen Job fand sie hier trotz zahlreicher Bewerbungen zunächst nicht. „Oft bin ich gar nicht erst zum Vorstellungsgespräch eingeladen worden“, erinnert sie sich. „Das Problem war meistens, dass ich nicht telefonieren kann – dabei bin ich doch immer erreichbar, per Mail und auch per WhatsApp.“ So war sie froh, als der Integrationsfachdienst (s. Info-Kasten) sie schließlich an das Bremer Cateringunternehmen Geschmackslabor vermittelte. Dort ist Simone Juchem seither als Projektassistentin tätig und erledigt unterschiedliche Aufgaben für die Buchhaltung und die Marketing-Abteilung. „Meine Arbeit macht mir viel Spaß“, erzählt sie. „Ich freue mich immer, wenn ich hier bin. Das Team ist wie eine Familie für mich.“
„Wir haben uns 2016 auf den Weg gemacht, Inklusionsbetrieb zu werden, weil es damals schon schwierig war, Personal zu finden und wir neue Wege erschließen wollten.“
Personalchefin Petra Czapiewska vom Geschmackslabor
Als einer von aktuell zehn sogenannten Inklusionsbetrieben im Land Bremen garantiert das Geschmackslabor, mindestens 30 Prozent seiner Arbeitsplätze mit schwerbehinderten Menschen zu besetzen. Dafür gibt es eine finanzielle Unterstützung vom Integrationsamt. „Wir haben uns 2016 auf den Weg gemacht, Inklusionsbetrieb zu werden, weil es damals schon schwierig war, Personal zu finden und wir neue Wege erschließen wollten“, berichtet Personalchefin Petra Czapiewska. Zwar gebe es auf diesem Weg auch hin und wieder Herausforderungen zu bestehen: „Aber in den allermeisten Bereichen lassen sich relativ einfache Lösungen finden.“ Ein Beispiel: Um die gehörlosen Beschäftigten im Notfall warnen zu können, wurde der Alarm durch ein zusätzliches Blaulicht ergänzt. Für den Betrieb sei die Zusammenarbeit zwischen Menschen mit und ohne Behinderung auf jeden Fall eine Bereicherung, betont Czapiewska. „Wir können voneinander lernen und bekommen andere Sichtweisen ins Team, das ist definitiv eine Win-win-Situation.“
Arbeitsmarkt benachteiligt Menschen mit Behinderung
Inklusion ist, wenn alle mitmachen dürfen: So schreibt es die Aktion Mensch auf ihrer Website. Und weiter: „Wenn alle Menschen dabei sein können, ist es normal, verschieden zu sein.“ Was ganz einfach klingt, ist in vielen gesellschaftlichen Bereichen noch immer alles andere als selbstverständlich – das gilt auch für den Arbeitsmarkt. So lag im Land Bremen die Erwerbstätigenquote schwerbehinderter Menschen zuletzt bei lediglich 56 Prozent: Das ist zwar über dem bundesweiten Durchschnitt von 47 Prozent, aber deutlich unterhalb der Erwerbstätigenquote der bremischen Gesamtbevölkerung von 71,7 Prozent. Fast ein Viertel der schwerbehinderten Erwerbstätigen sind in Bremen in einer Werkstatt für Menschen mit Behinderung beschäftigt, in denen sie keinen Anspruch auf Tarif- oder Mindestlohn haben. In den seltensten Fällen folgt von hier ein Übergang in den ersten Arbeitsmarkt: In den vergangenen Jahren gelang dies durchschnittlich nur drei von 1.000 Werkstattbeschäftigten pro Jahr. „Hier wäre es wichtig, die Beratungsangebote in der Richtung auszubauen, dass der Einstieg in das Sondersystem Werkstatt so weit wie möglich verhindert werden kann“, betont Kai Huter, Referentin für Arbeitsschutz- und Gesundheitspolitik bei der Arbeitnehmerkammer.
Betriebe mit mindestens 20 Beschäftigten sind gesetzlich verpflichtet, fünf Prozent der Arbeitsplätze mit schwerbehinderten oder ihnen gleichgestellten Menschen zu besetzen. Andernfalls haben sie eine Ausgleichsabgabe zu entrichten. In Bremen erfüllt allerdings nur einer von fünf Arbeitgebern diese Quote – fast jeder dritte Betrieb beschäftigt überhaupt keine Menschen mit Behinderung. „Vor allem private Arbeitgeber müssen noch stärker für die Beschäftigung von Menschen mit Schwerbehinderung gewonnen werden“, macht Kai Huter deutlich. Neue Eingliederungsleistungen wie das Budget für Arbeit und das Budget für Ausbildung stünden hierfür zur Verfügung, seien aber noch zu wenig bekannt. Mit Blick auf die zehn Inklusionsbetriebe im Land, die aktuell rund 100 Betroffene beschäftigen, meint die Referentin: „Es ist gut und wichtig, dass es diese Unternehmen gibt. Sie spielen bisher aber nur eine sehr kleine Rolle, darum ist es zu begrüßen, dass das Land Bremen mit einem aktuellen Aktionsprogramm gezielt neue Inklusionsbetriebe fördern will.“
Die Möglichkeiten in den Fokus stellen
Das sieht Christiane Johannsen genauso. Die Geschäftsführerin des Bremerhavener Inklusionsbetriebs Raumwerkerei ist zugleich Sprecherin der Landesarbeitsgemeinschaft (LAG) Inklusionsfirmen Bremen. „Die Wirtschaft ist oftmals noch nicht so weit, Menschen mit Behinderung einzustellen“, sagt sie. Ein häufig gehörtes Argument: Wenn die Zusammenarbeit nicht klappe, könne man diese Beschäftigten nicht wieder entlassen. „Dabei stimmt das gar nicht“, betont Johannsen. Problematisch sei die Haltung dahinter: „Viele stellen die Sorgen in den Vordergrund, dabei müssten vielmehr die Möglichkeiten im Fokus stehen.“ Solange das nicht der Fall sei, brauche es Inklusionsbetriebe. „Wir geben Menschen eine Chance, die sonst nur sehr schwer einen Arbeitsplatz finden würden.“
„Der Bereich Arbeit ist ein ganz wesentlicher Baustein von gesellschaftlicher Teilhabe insgesamt. Aber leider gibt es da noch viel Luft nach oben.“
Arne Frankenstein, Landesbehindertenbeauftragter
Allerdings fällt es auch den Inklusionsbetrieben nicht immer leicht, Personal zu finden. Viele behinderte Menschen wüssten gar nicht, dass es diese Firmen überhaupt gebe, berichtet die LAG-Sprecherin. Aus ihrer Erfahrung als Geschäftsführerin der Raumwerkerei weiß sie, dass inklusive Zusammenarbeit Zeit und Raum braucht – und das häufig mehr als in anderen Unternehmen des ersten Arbeitsmarktes. „Aber dafür bekommen wir auch ganz viel Menschliches zurück“, berichtet Johannsen. Es gebe viele unterschiedliche Arten von Beeinträchtigung und alle seien unterschiedlich zu betrachten und zu behandeln. „Wenn wir auf jeden und jede individuell eingehen und sehen, was er oder sie braucht, ist das eine wunderbare Bereicherung für alle im Team.“ Für sie bedeute Inklusion, jeden Menschen in seinen Talenten zu stärken und zu fördern. In Betrieben, in denen Menschen mit Behinderung tätig seien, herrsche zumeist eine ganz andere Unternehmenskultur: „Da gibt es viel Wertschätzung und viel Achtsamkeit“, hat sie festgestellt. „Und das ist nicht unbedingt mit Leistungsminderung verbunden. Behinderung heißt nicht automatisch, dass jemand schlechter arbeitet – es ist nur eine andere Art zu arbeiten.“
Arbeit ist wesentlicher Baustein von gesellschaftlicher Teilhabe
Laut UN-Behindertenrechtskonvention gilt für behinderte Menschen das gleiche Recht, den Lebensunterhalt durch Erwerbsarbeit in einem frei zugänglichen Arbeitsmarkt zu verdienen, wie für nicht behinderte Menschen. „Der Bereich Arbeit ist ein ganz wesentlicher Baustein von gesellschaftlicher Teilhabe insgesamt“, macht der Landesbehindertenbeauftragte Arne Frankenstein deutlich. „Aber leider gibt es da noch viel Luft nach oben. Es braucht ein Bündel an Maßnahmen, um bestehende Benachteiligungen abzubauen und wirksame Verbesserungen hin zu einem inklusiven Arbeitsmarkt zu erreichen.“ Zu begrüßen sei, dass sich viele wichtige Institutionen in Bremen und Bremerhaven inzwischen auf den Weg gemacht hätten, sagt er und verweist unter anderem auf eine aktuelle Publikation seines Hauses: Die Broschüre „Teilhabe behinderter Menschen. Miteinander netzwerken“ stellt unterschiedliche Projekte und Initiativen aus dem Bereich Arbeit vor und steht auf der Website des Landesbehindertenbeauftragten zum Download bereit.
Fast ein Viertel der schwerbehinderten Erwerbstätigen sind in Bremen in einer Werkstatt für Menschen mit Behinderung beschäftigt, in denen sie keinen Anspruch auf Tarif- oder Mindestlohn haben.
Was Inklusion im Schulsystem angehe, sei Bremen trotz bestehender Umsetzungsdefizite relativ weit, meint Frankenstein. „Aber nach der Schule wartet dann eben oft doch nicht der inklusive Arbeitsmarkt, sondern ein Arbeitsmarkt, der mit vielen Problemen behaftet ist.“ Die Konsequenz sei häufig, dass den Betroffenen nur ein Platz in einer Werkstatt für behinderte Menschen bleibe: „Und das ist zu Recht nicht die Erwartung von solchen Kindern und Jugendlichen, die im Schulsystem anders sozialisiert sind.“ Laut Frankenstein braucht es konkrete Angebote sowohl für junge Menschen als auch für ältere, die aufgrund einer Behinderung schon länger nicht mehr erwerbstätig sind. Hierfür gebe es bereits gute rechtliche Möglichkeiten zur Unterstützung oder finanziellen Förderung: „Das Problem ist, dass die Kenntnis dieser Unterstützungssysteme nicht sehr ausgeprägt ist.“ Ein Hoffnungsschimmer ist hier für ihn das vom Senat geplante Landesgremium „Teilhabe am ersten Arbeitsmarkt“, das alle Akteure des Systems zusammenführen und bürokratische Hürden abbauen soll. Allerdings war dessen Gründung ursprünglich für voriges Jahr vorgesehen, steht aber bis heute noch aus. Von den Arbeitgebern würde sich Frankenstein wünschen, dass sie bei der Einstellung von behinderten Menschen häufiger Vorbehalte überwinden. Denn: „Letztlich ist es nicht nur eine menschenrechtliche Aufgabe, bei der Inklusion weiterzukommen, sondern in Zeiten des Personalmangels auch eine wichtige Arbeitsmarktressource.“
Möglichkeiten nutzen!
Kommentar von Kai Huter, Referentin für Arbeitsschutz- und Gesundheitspolitik der Arbeitnehmerkammer Bremen
Offen, inklusiv und frei zugänglich – so sollte der Arbeitsmarkt für Menschen mit Behinderungen der UN-Behindertenrechtskonvention von 2006 zufolge sein. Die Realität sieht leider oft anders aus. Rahmenbedingungen und Fördermöglichkeiten haben sich in den vergangenen Jahren zwar verbessert, Effekte zeigen sich bisher aber zu wenig. Die bestehenden Fördermöglichkeiten werden noch viel zu selten genutzt. Der öffentliche Dienst des Landes erfüllt zwar die selbstgesetzte Sechs-Prozent-Quote, bleibt für besonders betroffene Schwerbehinderte jedoch deutlich hinter den Ankündigungen im Koalitionsvertrag 2019 zurück.
Sowohl Betriebe als auch Beschäftigte brauchen eine noch bessere Unterstützung und Begleitung, damit sie zusammenfinden. Gerade Jugendliche, die aus dem inklusiven Bremer Schulsystem kommen, brauchen bessere Angebote, die ihnen Möglichkeiten und Wege außerhalb der Werkstätten eröffnen.
Zudem: Der größte Teil der Beschäftigten erwirbt die Beeinträchtigung erst im Verlauf des Berufslebens. Hier sind die Betriebe gefordert, sowohl präventiv die Gesundheit der Beschäftigten noch stärker in den Blick zu nehmen als auch nach Erkrankungen mehr dafür zu tun, Beschäftigte mit Beeinträchtigungen mit ihrer Fachkompetenz im Betrieb zu halten.
Anlaufstellen
Das Integrationsamt als Dezernat des Amtes für Versorgung und Integration Bremen stellt schwerbehinderten Menschen und deren Arbeitgebern fachkundige Beratung und finanzielle Hilfen zur Verfügung, um neue Arbeitsplätze behinderungsgerecht zu gestalten und um bestehende Arbeitsplätze langfristig zu sichern.
Kontakt und weitere Informationen
Der Integrationsfachdienst (IFD) berät und unterstützt behinderte Menschen im Arbeitsleben und bietet Hilfestellung für deren Kollegen, Vorgesetzte und Arbeitgeber.
Die Zielgruppen des IFD sind insbesondere:
- schwerbehinderte Menschen mit einem besonderen Bedarf an berufsbegleitender Betreuung;
- Beschäftigte aus den Werkstätten für behinderte Menschen (WfbM), die nach zielgerichteter Vorbereitung den Übergang auf den allgemeinen Arbeitsmarkt schaffen können und
- schwerbehinderte Schulabgänger, die zur Aufnahme einer Beschäftigung auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt auf die Unterstützung eines IFD angewiesen sind.