Windräder im Sonnenuntergang

„Man sollte jetzt investieren!“

Wie müssen sich Deutschland und Europa wirtschaftlich aufstellen, um in einer weltpolitisch veränderten Lage wirtschaftlich zu bestehen? Mit dieser Frage setzen sich internationale Fachleute auf unserer Tagung am 2. September auseinander. Ein Gespräch mit der Direktorin der Denkfabrik „Dezernat Zukunft“ Philippa Sigl-Glöckner über die Schuldenbremse, Geld für den Klimaschutz, Investitionen in Erziehung und Bildung und die Frage, was wir von den USA lernen können.

Fragen: Jan Zier
Foto: Canva/Getty Images, Denkfabrik Zukunft
24. August 2023

Frau Sigl-­Glöckner, auf der Tagung der Arbeitnehmerkammer in Bremen sprechen Sie über die Finanzierung von Transformation, Investitionen und Wachstum. Gerade in Deutschland kommt dann ja sofort die Frage nach der Verschuldung. Zu Recht?

Philippa Sigl-Glöckner: Nein! Die erste Frage sollte sein: Wie gestalten wir die Gesellschaft, die wir lebenswert finden? Die Angst vor der Verschuldung, also die Angst vor der Ausgabe von zu vielen Staatsanleihen, hat sich hierzulande ziemlich verselbstständigt. Das hat schon etwas Religiöses!

Nun steht die Schuldenbremse aber auch im Grundgesetz. Was ist möglich, ohne gleich mit der Verfassung in Konflikt zu geraten?

Wenn man sich den Text anschaut, enthält er ein sinnvolles Prinzip: Der Staat darf sich verschulden, wenn die Wirtschaft unterausgelastet ist. Und wenn sie überausgelastet ist und Inflationsgefahr besteht, dann soll der Staat sparen. Das ist klassische keynesianische Finanzpolitik. Was im Grundgesetz nicht steht: eine quantitative Begrenzung der Neuverschuldung. Dass man den Grundgesetztext zur Schuldenbremse in okkulte mathematische Formeln übersetzt, ist keine Notwendigkeit, und wenn man genauer hinsieht, demokratietheoretisch sogar ziemlich problematisch. Diese okkulten Formeln implizieren normative Entscheidungen, die eigentlich im Parlament gefällt werden sollten. Daher sehe ich weniger das Grundgesetz als Hürde und mehr unser Unverständnis, was eigentlich unter der Schuldenbremse verborgen ist.

Was müsste konkret geändert werden?

Die unter der Schuldenbremse zulässige Neuverschuldung hängt davon ab, wie weit die Wirtschaft von ihrem Potenzial entfernt ist – dabei spielt vor allem eine Rolle, wie viel Potenzial noch im Arbeitsmarkt steckt. Das wird aktuell mit den angesprochenen Formeln geschätzt. Und das, obwohl das Potenzial des Arbeitsmarkts stark von normativen Fragen abhängt, zum Beispiel, ob Frauen eine gleichberechtigte Chance auf Arbeit haben sollen oder an den Herd gehören! Nicht Formeln, sondern der Bundestag sollte solche Fragen beantworten.

Sie fordern eine sozial gestaltete Finanz- und Wirtschaftspolitik. Jetzt sind sie in Bremen zu Besuch, einem Haushaltsnotlageland mit einer sehr scharfen Schuldenbremse. Wie kann man die Transformation unter diesen Bedingungen umsetzen?

Auf der Länderebene ist das sehr viel schwieriger und etwas grundsätzlich anderes als im Bund. Der Bund kann sich jederzeit und zu sehr niedrigen Kosten verschulden, ohne dass er diese Schulden gleich zurückzahlen muss. In Bremen ist das anders. Deswegen sollten die großen Aufgaben im Zweifel vom Bund getragen werden. Was man auf Länderebene tun kann, ist keine triviale Frage. Ich würde versuchen, hier einen Investitionshaushalt aufzustellen und sehr bewusst auszuwählen: Welche öffentliche Infrastruktur brauche ich unbedingt, um zukünftiges Wachstum zu sichern? Wie ziehe ich die Unternehmen an, die hier langfristig gute Arbeitsplätze in einer dekarbonisierten Wirtschaft schaffen?

Nun investiert Bremen mehrere Milliarden für den Klimaschutz, trotz Schuldenbremse. Ist das gut so?

Man sollte jetzt investieren! Ich applaudiere allen Ländern, die sich trotz strikter Regeln auf dem Weg machen und die nötigen Investitionen nun einfach tätigen. Wenn man noch fünf Jahre wartet, schadet das nur der Wirtschaft, dem gesellschaftlichen Zusammenhalt und dem Klima.

Die Dekarbonisierung ist eine der großen gesellschaftlichen Aufgaben. Wie ist das aus Ihrer Sicht zu finanzieren?

Da vermischen sich zwei Fragen miteinander. Die eine Frage ist: Wie sorgen wir jetzt dafür, dass die notwendigen Investitionen in unsere Wirtschaft passieren? Das ist finanziell keine Herausforderung, weil das Geld ja in der Zukunft wieder zurückkommt. Wenn wir unseren Job gut machen, bringt das künftig Steuereinnahmen. Dann gibt es da noch die Frage: Wie bezahlen wir jetzt für all das, was teuer ist, etwa die Gebäudesanierung? Das ist eine größere Herausforderung. Und das geht nicht ohne gute Steuereinnahmen.

Welche Rolle können die Erbschaftssteuer oder Vermögensabgaben dabei spielen?

Ich würde mich vor allem auf eine Reform der Erbschafts- und der Schenkungssteuer konzentrieren. Da gibt es einen ganz klaren Missstand, der auch volkswirtschaftlich bedenklich ist. Wir haben eine starke Vermögenskonzentration in Deutschland, vor allem bei Betriebsvermögen. Diese Konzentration nimmt immer weiter zu. Das ist für eine Marktwirtschaft, in der es Wettbewerb geben soll, nicht sinnvoll. Wenn Vermögen vor allem ererbt und nicht erarbeitet ist, gibt es keine Chancengleichheit mehr, und dann stirbt auch irgendwann die Innovation. Die sehr großzügige Ausgestaltung der Regeln für große Betriebsvermögen führt dazu, dass effektiv kaum Steuern bezahlt werden, wenn Vermögen im Wert von über 20 Millionen Euro übertragen werden. Im Durchschnitt werden die bei Schenkungen mit unter einem Prozent versteuert. Das sollten wir zuerst ändern.

 

Philippa Sigl-Glöckner, Direktorin der Denkfabrik „Dezernat Zukunft“
Philippa Sigl-Glöckner, Direktorin der Denkfabrik „Dezernat Zukunft“

Philippa Sigl-Glöckner ist die Gründerin und Direktorin der überparteilichen und auf Geld-, Finanz- sowie Wirtschaftspolitik fokussierten Denkfabrik „Dezernat Zukunft“. Sie wurde 1990 in München geboren und hat in England Philosophie, Politik und Volkswirtschaft sowie Informatik studiert. Philippa Sigl-Glöckner war unter anderem im Bundesfinanzministerium, dem liberianischen Finanzministerium, bei der Weltbank und in einer Unternehmensberatung in London tätig. Sie ist stellvertretende Vorsitzende des wirtschaftspolitischen Beirats des SPD-Parteivorstands.

 

Derzeit fehlt es an Investitionen in Erziehung oder Bildung, weil diese Ausgaben nicht als produktiv gelten. Wie kann man das ändern?

Momentan unterinvestieren wir in alles, was für zukünftige Generationen wichtig ist – Erziehung, Bildung, Infrastruktur. Wir sind kein Niedriglohnland. Was unsere Volkswirtschaft auszeichnet, sind gut ausgebildete Beschäftigte. Die Investition in Köpfe ist für uns die wichtigste überhaupt! Das ist meiner Ansicht nach jedem klar. Es passiert aber zu wenig. Das Problem entsteht, sobald man versucht zu definieren, welche Ausgabe eine Investition ist und welche nicht. Um eine möglichst belastbare Definition zu haben, geht man heute davon aus, dass Ausgaben für Sachgüter und Finanzprodukte Investitionen sind, alles andere aber nicht. Wenn der Staat Aktien kauft, gilt das also als Investition, wenn er Lehrer bezahlt, aber nicht. Es sollte offensichtlich sein, wie fehlgeleitet das ist. Deutschland ist eine etablierte Demokratie. Wir sollten uns zutrauen zu diskutieren, was produktive Ausgaben sind, anstatt stumpfen Buchhaltungsregeln zu folgen. Und gäbe es dann auch noch mehr weibliche Stimmen in der Finanzpolitik, sähe die Finanzierung vielleicht plötzlich ganz anders aus.

Die EU hat vor über 30 Jahren klare Regeln aufgestellt: Das öffentliche Defizit darf nicht mehr als drei Prozent des Bruttoinlandsproduktes (BIP) betragen. Und der öffentliche Schuldenstand darf nicht mehr als 60 Prozent des BIP betragen.

Finanzpolitik ist sehr komplex, doch die Politik möchte manchmal lieber einfache Antworten präsentieren. Eine einfache Zahl ist eine schöne Antwort. Mit ihr kann die Politik gut Verantwortung loswerden, weil sie ihre Finanzpolitik dann nicht mehr ausführlich erklären muss. Diese beiden Zahlen waren aber nie dazu gedacht, zu solchen quasi-religiösen Größen zu werden, die über Wohl und Wehe entscheiden. Sie waren nicht wissenschaftlich begründet, sondern wurden bei der Einführung des Euros politisch ausgehandelt. Später wurden sie verabsolutiert – und das ist wirklich ein Problem. Heute sagen sie überhaupt nichts mehr aus.

In den USA findet gerade eine ökonomische Zeitenwende mit expansiver Fiskalpolitik statt, während bei uns eher Depression herrscht. Was machen die USA besser mit Blick auf die Transformation?

Was dort passiert, ist wirklich sehr beeindruckend! Sie versuchen heute etwas, was hierzulande mittlerweile als unmöglich gilt: Der Staat macht sich tatsächlich auf, die Wirtschaft zu gestalten. Und zwar nicht primär durch Regularien, sondern indem er ganz bewusst eine Wirtschaft fördert, die für die Menschen gut ist. So bekommen Unternehmen in für die Dekarbonisierung wichtigen Sektoren von der US-Regierung Investitionsprämien – aber nur wenn sie den mittleren Lohn in ihrer Branche zahlen! Wenn Sie sich bei uns den Bundeshaushalt anschauen, dann steht da drin: Welche Auswirkungen er auf die Wirtschaft hat, können wir nicht so genau sagen, weil das vor allem von privatwirtschaftlichen Akteuren abhängt. Damit macht sich der Staat in Deutschland klein! Dieses Paradigma haben die USA komplett abgelegt. Damit sind sie ein Vorbild für Deutschland – auch wenn man manches sicherlich kritisch sehen sollte, so wie die stark nationale Komponente der Subventionspolitik. Deutschland könnte einen solchen nationalen Alleingang im europäischen Verbund nicht machen.

Wenn wir auf der auf der Tagung über Wirtschaftsmodelle reden, müssen wir auch nach China blicken, wo gerade sehr massiv in Klimaanpassung investiert wird. Was heißt das für uns?

Erst mal ist das sehr gut! Ob wir die Klimaziele weltweit einhalten, wird ja sehr stark von China und Indien abhängen. Aber das schafft natürlich auch Abhängigkeiten, und da wird es in der Zukunft noch mehr Konkurrenz geben. Sehen Sie sich die chinesischen Elektroautos an, die auf den Markt kommen, die sind viel billiger als die deutschen. Ich kann Ihnen aber keine abschließende Antwort zum richtigen Verhältnis zu China geben, weil ich denke, dass wir die intellektuelle Arbeit diesbezüglich noch leisten müssen. Aber was man auf jeden Fall sagen kann: Wir sollten auch hier sehr viel mehr bewusst gestalten als bisher und uns sehr genau überlegen, ob nicht ein Mehr an Europa ein Weniger an China ermöglichen kann.

Aber in Deutschland steht die Wirtschaft und der Markt im Grunde über dem Staat. Wie kann man daran etwas ändern?

Da hat sich in den letzten Jahren doch schon einiges geändert. Wenn Sie sich unseren Bundeskanzler anhören, klingt das manchmal nicht viel anders als in den USA bei Joe Biden. Es geht jetzt darum, wie wir unsere teils noch abstrakte Idee von Transformation, von guter Arbeit in einer dekarbonisierten Welt in ganz konkrete Politik übersetzen. Diese neue Wirtschafts- und Finanzpolitik wurde in den USA über die letzten Jahre im Detail ausgearbeitet. Diese Arbeit haben wir noch vor uns.

Veranstaltung mit internationalen Gästen in Bremen AKB003_IconInfo

Wie müssen sich Deutschland und Europa aufstellen, um in einer weltpolitisch veränderten Lage wirtschaftlich zu bestehen? Mit dieser Frage haben sich internationale Expertinnen und Experten auf der Tagung „Zukunft des deutschen und europäischen Wirtschaftsmodells in der Zeitenwende“ der Arbeitnehmerkammer Bremen auseinandergesetzt. Zur Dokumentation der Veranstaltung geht es ►hier