Seit dem Weinstein-Skandal im Jahre 2017 hat das Thema sexuelle Belästigung viel Aufmerksamkeit in den Medien bekommen. Am Arbeitsplatz hingegen ist es oft noch ein Tabu. Dabei gibt es viele Betroffene, die Unterstützung brauchen.
Text: Suse Lübker
Foto: Jonas Ginter
1. Juli 2023
Viele von uns haben von tatsächlichen Fällen gehört oder sie gar miterlebt: unerwünschte Berührungen, sexualisierte Sprüche oder zweideutige Kommentare über Aussehen oder Kleidung. Meist sind Frauen die Betroffenen: Laut einer Befragung aus dem Jahre 2020 haben 63 Prozent der Frauen und 49 Prozent der Männer sexuelle Übergriffe wahrgenommen oder waren selbst betroffen. „Sexismus findet oft dort statt, wo Macht eine Rolle spielt und wo starke Abhängigkeitsverhältnisse bestehen“, berichtet Christina Stockfisch, Referentin für Europäische und Internationale Gleichstellungspolitik im DGB-Bundesvorstand, im Podcast der Arbeitnehmerkammer „Rolle rückwärts“. Und dazu gehört eben ganz besonders die Arbeitswelt. Eine empirische Studie der Antidiskriminierungsstelle des Bundes zeigt, dass Beschäftigte in Gesundheits- und Sozialberufen besonders betroffen sind ebenso wie Mitarbeitende in Dienstleistungsberufen, zum Beispiel im Gastgewerbe oder im Verkauf. Alles Berufsgruppen, in denen die Beschäftigten viel Kontakt mit Kunden und Kundinnen haben.
Entscheidend ist die Wirkung und nicht die Intention
Zu den häufigsten Belästigungen am Arbeitsplatz zählen unangemessene sexualisierte Kommentare oder Witze und unerwünschte belästigende Blicke, Verhaltensweisen oder Nachpfeifen. Manchmal sind es schon kleine Gesten, die ein unangenehmes Gefühl auslösen – entscheidend ist, wie die betroffene Person das Verhalten empfindet. Der Handlungsleitfaden für betriebliche Interessenvertretungen des DGB weist darauf hin, dass die betroffene Person selbst entscheidet, ob ihre Grenzen überschritten sind oder die eigene Würde verletzt wurde. Es kommt also nicht darauf an, ob jemand mit Absicht oder unbewusst handelt, sondern entscheidend ist, wie dieses Verhalten ankommt.
Legt ein Ausbilder stolz die Hand auf die Schulter der einzigen weiblichen Auszubildenden, so kann das von der jungen Frau bereits als unerwünscht empfunden werden, egal in welcher Intention ihr Vorgesetzter gehandelt hat, erklärt Stockfisch: „Gerade Auszubildende gehören zu den verletzlichsten Gruppen. Oft sind sie noch unsicher, inwieweit sie formulieren dürfen, wo ihre Grenze ist.“ Umso wichtger sei es, dass im Betrieb deutlich gemacht wird, dass die Mitarbeitenden partnerschaftlich und respektvoll miteinander umgehen, zum Beispiel in Betriebsvereinbarungen. „Für die Betroffenen müssen klare Beschwerdewege und Beratungsmöglichkeiten ersichtlich sein – ein Nein können sie aufgrund der Abhängigkeitsverhältnisse in der konkreten Situation häufig nicht formulieren“, ergänzt Wiebke Blanquett, Referentin für Gleichstellung und Diversität der Arbeitnehmerkammer Bremen.
Rechtliche Möglichkeiten für Betroffene
Opfer sexueller Belästigung am Arbeitsplatz haben laut AGG (Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz) das Recht, sich bei einer Beschwerdestelle oder beim Betriebsrat zu beschweren. Das Gesetz regelt das Verbot und den Schutz vor sexueller Belästigung am Arbeitsplatz und verbietet jede Form der sexuellen Belästigung am Arbeitsplatz als eine Diskriminierung. Für viele Betroffene ist das keine leichte Aufgabe. Nicht alle finden den Mut, sich zu beschweren, manche müssen zunächst eine Person finden, der sie sich anvertrauen. Auch bei der Rechtsberatung der Arbeitnehmerkammer tauchen selten Fragen zur sexuellen Belästigung auf. Kaarina Hauer, Leitung Rechtspolitik und -beratung, geht davon aus, dass es eine hohe Dunkelziffer gibt, weil die Beratungen zu diesem Thema große Überwindung kosten: „Die Ratsuchenden scheuen sich, die rechtlichen Möglichkeiten auszuschöpfen, weil die Kraft für eine rechtliche Auseinandersetzung fehlt.“ Umso wichtiger sei es, dass es klare Ansprechpersonen im Betrieb gibt, denen sich Betroffene anvertrauen können.
Vorgesetzte sind in der Pflicht
Das Gesetz verpflichtet jeden Arbeitgeber, die Beschäftigten vor Belästigungen aller Art zu schützen und aktiv zu werden, wenn ein Fall gemeldet wird. Was heißt das konkret? Arbeitgeber müssen deutlich machen, an wen man sich im Betrieb wenden kann, so schreibt es das Gesetz vor. So kann der oder die Vorgesetzte eine konkrete Person benennen oder eine Beschwerdestelle einrichten. Und auch der Betriebsrat sollte informiert werden und sich einschalten. Wie lassen sich derartige Vorfälle im Betrieb verhindern? Dafür ist es wichtig, auf Betriebsversammlungen klar und deutlich zu formulieren, wie im Unternehmen mit dem Thema umgegangen wird, damit es kein Tabu bleibt. Hilfreich sind ebenfalls betriebsinterne Infoveranstaltungen zum Thema. „Sobald sich jemand belästigt fühlt, muss darüber gesprochen werden", fordert Stockfisch. Man solle diskriminierendes Verhalten niemals akzeptieren und denken, es höre schon von allein wieder auf. Das werde nicht passieren, dessen ist sich die Referentin sicher. „Sexuelle Belästigung ist ein strukturelles und kein individuelles Problem, dem nur über die Veränderung der Unternehmenskultur begegnet werden kann“, ergänzt Wiebke Blanquett. Das wiederum heißt auch, dass Arbeitgeber dies anerkennen und Führungskräfte mit gutem Beispiel vorangehen.
Auf einen Blick: Rechtliche Möglichkeiten für Betroffene
(1) Beschwerderecht im Unternehmen
Nach §13 AGG (Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz) haben Betroffene ein Beschwerderecht. Sie können sich bei einer Beschwerdestelle oder beim Betriebsrat beschweren. Gibt es beides nicht, können sie sich auch an den Arbeitgeber wenden. Der Arbeitgeber wiederum ist verpflichtet, das Ergebnis seiner Vorgehensweise mitzuteilen. Nach herrschender Ansicht kann die Beschwerde aber auch anonym erfolgen. In diesem Fall verzichtet der oder die Beschwerdeführer/-in auf das sogenannte Ergebnismitteilungsrecht.
(2) Leistungsverweigerungsrecht
Für den Fall, dass der Arbeitgeber keine oder offensichtlich ungeeignete Maßnahmen zur Unterbindung einer sexuellen Belästigung am Arbeitsplatz ergreift, so darf der oder die belästigte Arbeitnehmende die Arbeit verweigern, ohne dass dadurch der Anspruch auf Lohnzahlung entfällt. Voraussetzung ist aber, dass die Arbeitsverweigerung zum Schutz des Arbeitnehmers vor weiteren Belästigungen nötig ist.
(3) Schadensersatzansprüche gegenüber dem Arbeitgeber (§15 AGG)
Betroffene Arbeitnehmende können Schadensersatz und Entschädigung (Schmerzensgeld) vom Arbeitgeber fordern, und zwar verschuldensunabhängig. Meist kann dem Arbeitgeber bei einer einmaligen Belästigung am Arbeitsplatz kein Verschulden unterstellt werden, bei häufiger vorkommenden Belästigungen muss man davon ausgehen, dass der Arbeitgeber keine geeigneten Schutzmaßnahmen zur Verfügung gestellt hat. Bei diesem Schadensersatzanspruch gegenüber dem Arbeitgeber sind die kurzen Fristen von zwei und drei Monaten zu beachten: Der Anspruch muss innerhalb von zwei Monaten nach dem sexuellen Übergriff und der Kenntnis des Arbeitnehmers über alle relevanten Umstände schriftlich beim Arbeitgeber geltend gemacht werden. Weigert sich der Arbeitgeber, muss der Arbeitnehmende innerhalb von drei Monaten nach schriftlicher Geltendmachung den Anspruch einklagen.
(4) Benachteiligungsverbot des Arbeitgebers (§16 AGG)
Betroffene, die sich gegen eine sexuelle Belästigung zur Wehr setzen, dürfen von ihrem Arbeitgeber aus diesem Grund nicht benachteiligt werden.
(5) Ansprüche bzw. Vorgehen gegenüber dem Belästiger oder der Belästigerin
Unabhängig vom AGG bestehen Ansprüche gegenüber dem Belästger oder der Belästigerin. Auf zivilrechtlicher Seite handelt es sich um Unterlassungs- und Schmerzensgeldansprüche. Darüber hinaus können die Taten auch strafrechtlich verfolgt werden.
(6) Pflichten des Arbeitgebers
Der Arbeitgeber ist in zweierlei Hinsicht verpflichtet zu handeln: Zum einen besteht eine Präventions- und Schutzpflicht. Zum anderen muss er bei einem Vorfall tätig werden, da er sich ansonsten schadensersatzpflichtig macht. Er hat (auch bei einer anonymen Anzeige) vollumfängliche Prüfpflichten wahrzunehmen. Bei einer tatsächlich erfolgten Benachteiligung sind die erforderlichen Maßnahmen nach §12 Abs.3 AGG einzuleiten. Unterlässt ein Arbeitgeber die Überprüfung des Vorwurfes, können bei einer wiederholten Benachteiligung Rechte aus §§14, 15 AGG geltend gemacht werden. Diese wären: Leistungsverweigerungsrecht, Entschädigung und Schadensersatz. Sollte sich der Verdacht bestätigen oder zumindest erhärten, muss der Arbeitgeber weitere Maßnahmen treffen (Versetzung, Abmahnung, Kündigung) und zusätzlich Schulungen erteilen. Schulungen dürften in Anbetracht der Pflichten des Arbeitgebers nach §12 AGG auch prophylaktisch sinnvoll sein. Darüber hinaus empfehlt sich, für Arbeitgeber und Betriebsräte eine Betriebsvereinbarung bei Diskriminierungstatbeständen zu schließen. Die Mitbestimmungsabteilung der Arbeitnehmerkammer ist bei dieser Aufgabe gern behilflich.
Anlauf- und Beratungsstellen in Bremen
In Bremen gibt es verschiedene Anlaufstellen für Betroffene. Wer sich nicht an seinen Arbeitgeber, an den Betriebs- oder Personalrat beziehungsweise die Mitarbeitervertretung wenden kann oder möchte, bekommt hier Rat und Unterstützung:
• Die Arbeitnehmerkammer Bremen informiert bei rechtlichen Fragen rund um das Thema Diskriminierung am Arbeitsplatz. Die Mitbestimmungsabteilung unterstützt ebenfalls Betriebsräte zum Thema, zum Beispiel, wenn es um die Errichtung von Betriebsvereinbarungen/Dienstvereinbarungen geht.
• Notruf – Psychologische Beratung bei sexueller Gewalt
• ADA – Antidiskriminierung in der Arbeitswelt Arbeit und Leben Bremen e. V. berät und unterstützt Betriebe bei der Einrichtung und Umsetzung innerbetrieblicher Beschwerdestellen.
Telefon: 0421 96089-0, E-Mail: info@ada-bremen.de
• Die Bremische Zentralstelle für die Verwirklichung der Gleichberechtigung der Frau (ZGF) berät Frauen und Mädchen, die sich an ihrem Arbeitsplatz diskriminiert fühlen.
Infos unter Telefon: 0421 361-3133. Die Zentralstelle Bremerhaven ist erreichbar unter Telefon: 0471 596-13823.
• Das Hilfetelefon Gewalt gegen Frauen berät betroffene Frauen zu den verschiedenen Möglichkeiten, Belästigungen wirksam entgegenzutreten. Die Beraterinnen nennen den betroffenen Frauen auch Anlaufstellen in der Nähe. Arbeitskolleginnen und -kollegen, Freundinnen, Freunde und Verwandte sowie Fachkräffe können sich ebenso bei all ihren Fragen zu sexueller Belästigung am Arbeitsplatz an das Hilfetelefon wenden.
Telefon (bundesweite Nummer): 08000116016