Ein Mann mit orangener Jacke und Lieferando-Rucksack steht auf einer Straße und blickt in die Kamera.

Lieferando & Co: Arbeiten für digitale ­Plattformen

Die ­Arbeitsbedingungen ­vieler ­stehen ­schon lange in der Kritik

Digitale Plattformen wie eBay, Amazon, Uber oder Lieferando sind längst Teil unseres Alltags. Die Arbeitsbedingungen vieler Plattformunternehmen stehen allerdings schon lange in der Kritik.

Text: Suse Lübker
Foto: Jonas Ginter
1. März 2024

Auf dem Foto: Tobias Horoschko. Er fährt seit 2017 für Lieferando, seit 2019 setzt er sich als ­Betriebsrat aktiv für die Rechte seiner Kolleginnen und Kollegen ein

Wer Appetit hat, bestellt direkt bei einem Liefer­dienst. Wer ein paar neue Schuhe braucht, schaut erst einmal online, und wer auf der Suche nach einem Hotel für den nächsten Urlaub ist, recherchiert bei einem der vielen Online-Portale. In den letzten 20 Jahren ist die digitale Welt enorm gewachsen, viele Branchen wurden auf den Kopf gestellt. Bekannte traditionelle Geschäftsmodelle sind fast verschwunden: Videotheken etwa oder Reisebüros. An einigen digitalen ­Riesen wie Amazon oder Booking.com ist kaum mehr vorbeizukommen.

Solche internetbasierten Geschäftsmodelle, die An­bieten­de und Kundschaft auf einem digitalen Marktplatz zusammen­bringen, werden mit dem Begriff „Plattformökonomie“ bezeichnet. Oft bieten die Plattformbetreibenden keine eigenen Produkte an, sondern stellen neben dem Marktplatz für verschiedene Anbietende nur die Infrastruktur für den Bestellablauf bereit und organisieren die Zahlungen. All diese Plattformen haben dazu beige­tragen, dass Verbraucherinnen und Verbraucher nicht nur eine ­größere Auswahl an Produkten und Dienstleistungen haben, sondern diese auch rund um die Uhr verfügbar sind.

Neue Arbeitsmodelle durch digitale Plattformen

Digitale Plattformen haben viele Arbeitsplätze ge­­schaffen: Schätzungen zufolge verdienen fast sechs Prozent der Erwerbstätigen in Deutschland mindestens ein Viertel ihres Einkommens durch Plattformarbeit. Andererseits:
Die Einkommen sind niedrig, Beschäftigte, die ausschließlich von dieser Arbeit leben, leben oft in prekären Verhältnissen und sind selten arbeitsrechtlich abgesichert.

„Für viele verkehrt sich die ­vordergründige ­Flexibilität in starke Abhängigkeit.“
Daniel Kühn, Berater Digitalisierung der Arbeitswelt

Viele Beschäftigte erledigen ihre Arbeiten rein digital und ohne Kontakt zu Kollegen oder Kunden. Sie bear­beiten Anfragen, schreiben kurze Texte, testen Produkte oder liefern Produkte aus. Attraktiv für diejenigen, die zeitlich und räumlich flexibel arbeiten möchten oder müssen. Wer bei einem der zahlreichen Plattformunternehmen beschäftigt ist, hat allerdings selten persönliche Vorgesetzte. Viele Plattform-Mitarbeiterinnen und -Mitarbeiter eint außerdem, dass sie keinen definierten Arbeitsort haben. Genau das kriti­siert Daniel Kühn, Berater Digitalisierung der Arbeitswelt bei der Arbeitnehmerkammer: „Arbeitsprozesse passieren nicht mehr innerhalb einer Betriebsstätte, sondern werden nur noch digital vermittelt. Die Beschäftigten sind stark auf sich selbst zurückgeworfen, haben keine Ansprech- oder Austauschmöglichkeiten, nur den digital vermittelten Auftrag. Sie müssen im Grunde wie Selbstständige unternehmerisch denken, ohne jedoch über den Arbeitsprozess mitbestimmen zu können. Für viele verkehrt sich die vordergründige Flexibilität damit in starke Abhängigkeit.“

Beispiel: Essenslieferdienst Lieferando

Der Essenslieferdienst Lieferando gehört zu dem niederländischen Mutterkonzern Just Eat Takeway und ist in 25 Ländern weltweit vertreten. Schon lange kritisieren Arbeitsrechtler das Unternehmen wegen seiner schlechten Arbeitsbedingungen. Tobias Horoschko fährt seit 2017 für Lieferando, seit 2019 setzt er sich als Betriebsrat aktiv für die Rechte ­seiner Kolleginnen und Kollegen ein. Er bemängelt die unzureichende Kommunikation innerhalb des Unternehmens, wichtige Informationen würden nicht an die Belegschaft weitergeben. Dazu gehört zum Beispiel, dass der Arbeit­geber Dienstfahrräder und Diensttelefone stellen muss, das sei gesetzlich so vorgesehen, sagt Horoschko. Die meisten „­Driver“ nutzen allerdings ihr eigenes Handy. Geht dieses einmal kaputt, gibt es keinen Ersatz. Ein großes Problem sei auch, so Tobias Horoschko, dass viele der 10.000 Beschäftigten aus nicht-deutschsprachigen Ländern kommen und wenig über ihre Rechte in Deutschland wissen. Das sei in Bremen besonders auffällig, so Tobias Horoschko, und typisch für die Branche.

„Viele der 10.000 Beschäftigten kommen aus nicht-­deutschsprachigen Ländern und ­wissen wenig über ihre Rechte.“
Tobias Horoschko, Driver und Betriebsrat bei Lieferando

Immerhin sind bei Lieferando die meisten Beschäftigten unbefristet beschäftigt. Allerdings, so Horoschko, würden viele Mitarbeitende direkt nach dem Ablauf der Probezeit wieder entlassen, die Fluktuation sei hoch. „Unbefristete Verträge sind nichts mehr wert und die Menschen können nichts tun, weil sie oft ihre Rechte gar nicht kennen. Hire and Fire –
so lautet das Motto der Unternehmensleitung.“ Der Grund für diese „Drehtürpolitik“ liege auf der Hand: Je länger die Beschäftigten im Betrieb arbeiten, desto genauer durchschauen sie die Firmenpolitik und desto kritischer reagieren sie auf Ungerechtigkeiten.

Als Betriebsrat setzt sich Horoschko dafür ein, dass die Beschäftigten ihre Rechte kennen und sie geltend machen. Ein Kampf gegen Windmühlen sei das, viele der Beschäftigten seien überfordert und bräuchten seine Unterstützung. Zum Beispiel bei Fragen zu Krankschreibung oder zu Arbeitszeiten. Alles Themen, für die normalerweise eine Personalabteilung zuständig sei. Aber die gibt es eben vor Ort nicht und digital lässt sich wenig klären.

„Die Gefahr ist, dass sich unregulierte und flexibilisierte Arbeit am Beispiel der Plattformarbeit so weit etabliert, dass der Standard für gute Arbeit absinkt“, befürchtet Daniel Kühn. Der Berater fordert, dass dem Interesse des schlanken algorithmischen Managements entgegengesteuert werden muss, insbesondere indem auch ohne feste Betriebsstätte vor Ort mitbestimmt werden kann und Betriebsräte gestärkt werden.

Schlechte Arbeitsbedingungen an der Tagesordnung

Die Initiative Fairwork hat 2021 insgesamt 15 digitale Plattformen untersucht und Bezahlung, Arbeitsbedingungen, Verträge, Managementprozesse und Mitbestimmung unter die Lupe genommen. Die Ergebnisse zeigen, dass Plattformen noch weit davon entfernt sind, grundlegende Standards für faire Arbeit zu etablieren. Dazu gehört zum Beispiel, dass nur wenige der untersuchten Plattformen ihren Beschäftigten Löhne zahlen, die über dem Mindeststundenlohn liegen. Gemäß einer im Jahr 2019 von der Bertelsmann-Stiftung veröffentlichten Studie, die die Arbeitsmärkte in der Platt­formökonomie untersuchte, verfügen etwas mehr als 75 Prozent der Plattformarbeitskräfte noch nicht über Absicherungen in Bezug auf Krankheit, Alter, Pflegebedürftigkeit und andere Aspekte.

Auch diese Entwicklung ändert sich nur langsam, und es braucht dringend klare Richtlinien für faire Entlohnung und die Festlegung von Mindeststandards für Arbeitsbedingungen; „Viele arbeitsrechtliche Regularien sind nach wie vor auf ein Normalarbeitsverhältnis zugeschnitten. Hier muss dringend die Gesetzesgrundlage angepasst werden, damit auch Plattformbeschäftigte in jedem Fall unter den Arbeitnehmerbegriff fallen“, fordert auch Daniel Kühn. „Zudem sollten Plattformen zu kollektivrechtlichen Vereinbarungen in Form von Tarifverträgen bewegt werden – europäische Nachbarn wie Österreich sind hier weiter.“


Die Abteilung Mitbestimmung und Technologieberatung der Arbeitnehmerkammer berät Interessenvertretungen (Betriebs- und Personalräte und Mitarbeitervertretungen). Auch Beschäftigte, die die die Gründung einer Interessenvertretung planen, können sich hierbei unterstützen lassen.