Viele ausgestiegene Pflegekräfte wären bereit, in ihren Beruf zurückzukehren – wenn sich die Arbeitsbedingungen erkennbar verbessern. Unter diesen Voraussetzungen würden auch viele Teilzeitkräfte ihre Arbeitszeit aufstocken: Das zeigt eine bundesweite Untersuchung der Arbeitnehmerkammer.
Text: Anne-Katrin Wehrmann
Fotos: Jonas Ginter
1. Juli 2022
Die Arbeitsbedingungen in der Pflege waren schon vor Corona schlecht. Keiner hört uns. Ich konnte nicht mehr abschalten, durchschnaufen, war am Ausbrennen, hatte keine Perspektiven. Ich hatte es leid, einzuspringen und Kolleginnen zum Einspringen zu zwingen. Ich konnte schon seit Jahren nicht mehr die Patienten versorgen, wie es mein Anspruch an Pflege ist. Ich war nicht mehr bereit, die Verantwortung zu übernehmen. Mein Privatleben litt sehr.“ So beschreibt eine Teilzeitkraft aus der Krankenpflege, wie sie ihre Arbeit erlebt. Eine andere macht deutlich, woran es aus ihrer Sicht am meisten mangelt: „Respekt und ansprechende Bezahlung in einem Rahmen, der mit genügend Personal bewältigt werden kann.“ Und eine Teilzeitkraft aus der Langzeitpflege beklagt: „Der Pflege muss unbedingt mehr Fachlichkeit zugetraut und gestattet werden! Es ist frustrierend, wenn Pflegende auf inkompetente Anweisungen vom Arzt angewiesen sind, die einen Patienten nur hin und wieder sehen, und wenn den Pflegenden die medizinische Kompetenz völlig abgesprochen wird. Wie es einem zu Pflegenden geht, weiß der, der ihn fast täglich sieht und mit ihm kommuniziert!“
„Die Pflegekräfte haben genaue Vorstellungen davon, was sich ändern muss, damit sie ihren [...] Beruf so ausüben können, wie es ihren fachlichen Vorstellungen und ihrer Ausbildung entspricht.“
Jennie Auffenberg (Referentin für Gesundheits- und Pflegepolitik)
Diese Aussagen stammen aus der Studie „Ich pflege wieder, wenn …“, die die Arbeitnehmerkammer Bremen jetzt in Kooperation mit der Arbeitskammer im Saarland sowie dem Institut für Arbeit und Technik Gelsenkirchen veröffentlicht hat und die von der Hans-Böckler-Stiftung gefördert wurde. Die Untersuchung basiert auf einer bundesweiten Onlinebefragung, an der sich im vergangenen Jahr rund 12.700 aus ihrem Beruf ausgestiegene oder in Teilzeit arbeitende Pflegekräfte beteiligt hatten. Eines der Kernergebnisse: Bei einer erkennbaren Verbesserung der Arbeitsbedingungen könnten sich so viele Pflegerinnen und Pfleger eine Rückkehr in ihren Beruf beziehungsweise ein Aufstocken ihrer Arbeitszeit vorstellen, dass sich daraus bei vorsichtiger Kalkulation ein rechnerisches Potenzial von 300.000 zusätzlichen Vollzeitstellen ergibt – bei optimistischer Rechnung sogar von bis zu 660.000.
„Wir brauchen dringend glaubhafte Verbesserungen“
Damit korrespondiert die aktuelle Studie mit den Ergebnissen der regionalen Pilot-Untersuchung, die die Arbeitnehmerkammer 2020 in Bremen durchgeführt hatte. „Wir haben die Reichweite vergrößert und so dafür gesorgt, dass jetzt zum ersten Mal bundesweite Daten vorliegen“, sagt Jennie Auffenberg, Co-Autorin der Studie und Referentin für Gesundheits- und Pflegepolitik bei der Arbeitnehmerkammer. „Die gute Nachricht lautet: Wir haben nun schwarz auf weiß, dass es für die Pflege ein großes Fachkräfte-Potenzial gibt – das momentan brachliegt, das sich aber heben lässt.“ So habe die Befragung gezeigt, dass sich gut 60 Prozent der Ausgestiegenen eine Rückkehr in ihren Beruf vorstellen könnten. Knapp die Hälfte aller Teilzeitpflegekräfte sei grundsätzlich bereit, ihre Arbeitszeit aufzustocken, und zwar im Mittel um zehn Stunden pro Woche. „Wenn sich diese Pflegekräfte überzeugen ließen, tatsächlich zurückzukehren beziehungsweise ihre Stundenzahl zu erhöhen, könnte das mit Blick auf den Pflegenotstand deutliche Abhilfe schaffen“, betont Auffenberg.
Das wird allerdings nicht von selbst passieren: Auch das hat die Studie klar zum Vorschein gebracht. „Die Pflegekräfte haben genaue Vorstellungen davon, was sich ändern muss, damit sie ihren verantwortungsvollen Beruf so ausüben können, wie es ihren fachlichen Vorstellungen und ihrer Ausbildung entspricht“, erläutert die Co-Autorin. Zentraler Aspekt der Untersuchung war deswegen die Frage, unter welchen Bedingungen Pflegerinnen und Pfleger zurückkehren beziehungsweise aufstocken würden. Die Antworten zeigen: Als stärkste Motivation nennen die Befragten eine Personaldecke, die sich tatsächlich am Bedarf der pflegebedürftigen Menschen ausrichtet. Außerdem wünschen sie sich eine bessere Bezahlung und verlässliche Arbeitszeiten. Und nicht zuletzt: respektvolle Vorgesetzte, ein kollegialer Umgang mit allen Berufsgruppen sowie mehr Augenhöhe gegenüber den Ärztinnen und Ärzten. „Wir brauchen jetzt dringend glaubhafte Verbesserungen“, macht Jennie Auffenberg deutlich. „Und glaubhaft ansetzen lässt sich im Wesentlichen bei der Bezahlung und bei der Einführung einer angemessenen, am tatsächlichen Pflegebedarf ausgerichteten Personalbemessung.“
Wichtigster Hebel: bedarfsorientierte Personalbemessung
Begleitet wurde die Studie von einem wissenschaftlichen Beirat, dem auch Claus Bölicke vom Bündnis für gute Pflege angehört. „Es hat mich überrascht, wie groß das Potenzial ist“, sagt er. „Das sind zunächst einmal hoffnungsvolle Ergebnisse. Die Studie zeigt aber auch, dass jetzt die Voraussetzungen dafür geschaffen werden müssen, dieses Potenzial auch wirklich zu heben.“ Beim Thema angemessene Entlohnung sei es zum Beispiel wichtig, die aktuell noch deutlich geringeren Löhne in der Altenpflege an die in der Krankenpflege anzugleichen. Darüber hinaus brauche es weitergehende gesetzliche Regelungen zur bedarfsorientierten Personalbemessung, betont auch Bölicke. In dem Zusammenhang verweist er unter anderem auf die schon vorgesehene Einführung der „Personalbedarfsmessung in vollstationären Pflegeeinrichtungen“ (PeBeM) für die stationäre Langzeitpflege, für die es bereits eine Roadmap zur Umsetzung gibt. Allerdings: „Bisher ist lediglich die erste Personalausbaustufe gesetzlich verankert, die ab kommendem Jahr umgesetzt werden soll und 40 Prozent des tatsächlichen Bedarfs umfasst“, berichtet Bölicke. „Für eine verlässliche Planung muss die Bundesregierung jetzt festlegen, wie die nächsten Ausbaustufen aussehen sollen.“
„Wir haben kein Erkenntnisproblem, wir haben ein Umsetzungsproblem. Es muss jetzt dringend politische Konsequenzen geben.“
Matthias Gruß (wissenschaftlicher Beirat der Studie)
Für die Krankenpflege hatte die Gewerkschaft ver.di Anfang 2020 in seltener Einmütigkeit zusammen mit der Deutschen Krankenhausgesellschaft und dem Deutschen Pflegerat die „Pflegepersonalregelung 2.0“ (PPR 2.0) erarbeitet. Politisch passiert ist seither nicht viel. Die aktuelle Studie lasse nun keinen Zweifel daran, wo die Probleme liegen, meint Matthias Gruß, der ebenfalls dem wissenschaftlichen Beirat angehört und bei ver.di für Altenpflege zuständig ist. „Wir haben kein Erkenntnisproblem, wir haben ein Umsetzungsproblem. Es muss jetzt dringend politische Konsequenzen geben.“ Dass
ver.di gemeinsam mit den Krankenhausbeschäftigten zuletzt in 18 deutschen Kliniken sogenannte Entlastungstarifverträge durchgesetzt habe, sei die gewerkschaftlich richtige Antwort auf unzureichende gesetzliche Regelungen. Gruß: „Wenn es mehr Personal durch funktionierende und bedarfsgerechte Personalbemessungsinstrumente gäbe, bräuchte es keine Streiks für Entlastungstarifverträge.“
Den Teufelskreis durchbrechen
Bremens Gesundheitssenatorin Claudia Bernhard betont, dass es eine so umfassende Untersuchung wie diese zuvor noch nicht gegeben habe. „Sie gibt vielen Akteurinnen und Akteuren im Gesundheitswesen Hinweise, wie Pflegekräfte zurückgewonnen werden können. Ich freue mich sehr darüber, dass eine solch wichtige Studie aus Bremen kommt.“ Erneut sei deutlich geworden, dass es für den Personalmangel in der Pflege viele Gründe gebe. Deswegen müsse sich endlich etwas tun. „Wir brauchen bundesweit die flächendeckende Allgemeinverbindlichkeit von Tarifverträgen, insgesamt müssen die Tarifpartner aber auch zu besseren Abschlüssen kommen“, fordert die Senatorin. „Was aber mindestens genauso wichtig ist, ist eine größere Wertschätzung von Pflegekräften. Um diese zu erreichen, müssen wir endlich veraltete, hierarchische Strukturen aufbrechen.“ Pflege sei in allen Führungsebenen inhaltlich und personell fest zu verankern: „Nur dann werden wir endlich zu einer Personalbesetzung kommen können, die den fachlichen Anforderungen tatsächlich entspricht.“
Jede Verbesserung in der Pflege werfe auch Fragen nach der Finanzierung auf, sagt Elke Heyduck, Geschäftsführerin der Arbeitnehmerkammer. „Es kann nicht sein, dass die Eigenanteile der Pflegebedürftigen durch die Decke gehen, weil der Betrieb ausreichend Personal einstellt und die Pflegeversicherung diese Mehrkosten nicht abdeckt“, schildert sie mögliche Folgen. Der Koalitionsvertrag sehe zunächst nur die Prüfung einer freiwilligen, paritätisch finanzierten Pflegevollversicherung vor. Mindestens dieser Prüfauftrag müsse nun umgesetzt werden. Mittelfristig gehörten jedoch sowohl die Pflege- als auch die Krankenversicherung auf stabilere Beine gestellt. „An einer Bürgerversicherung, die auch Beamte und Selbstständige einbezieht, geht auf Dauer kein Weg vorbei“, so Heyduck. Da sich die Koalition im Bund nicht auf eine Bürgerversicherung habe einigen können, sei zumindest ein Ausgleich zwischen privater und gesetzlicher Krankenversicherung nötig – und eine Deckelung der Eigenanteile in der stationären Pflege.
Um mehr Pflegekräfte zur Rückkehr in ihren Beruf beziehungsweise zur Erhöhung ihrer Stundenzahl zu motivieren, braucht es bessere Arbeitsbedingungen. Für bessere Arbeitsbedingungen braucht es mehr Pflegepersonal. Ein Teufelskreis – der sich aber durchbrechen lässt, davon ist Elke Heyduck überzeugt. „Schon jetzt kann Politik, schon jetzt können Betriebe Bedingungen der Pflege zum Positiven verändern“, macht sie deutlich. „Eine angemessene Entlohnung und Angleichung der Gehälter von Kranken- und Altenpflegefachkräften kann sofort erfolgen, in den Ländern kann die Ausbildung von Assistenzkräften auf qualitativ hohem Niveau erfolgen. Maßnahmen, um den Wiedereinstieg zu erleichtern oder auch eine gute und respektvolle Führungskultur –
das können Betriebe umsetzen.“
Pflegepersonalregelung jetzt!
Kommentar von Jennie Auffenberg, Referentin für Gesundheits- und Pflegepolitik
Mehr Zeit für eine gute Pflege durch mehr Personal – das ist einer der stärksten Motivationsfaktoren für die Berufsrückkehr.
Eine glaubhafte Perspektive dafür vermitteln bedarfsgerechte Personalbemessungsinstrumente. Diese fehlen im Krankenhausbereich, für ihn gelten aktuell nur die unzureichenden Pflegepersonaluntergrenzen.
Ein geeignetes Instrument wäre schnell einsetzbar: Die Pflegepersonalregelung (PPR 2.0), die bereits in den 1990er- Jahren galt, nun aktualisiert und modellhaft erprobt wurde. Der Koalitionsvertrag hat sie angekündigt. Die Refinanzierung ist durch das Pflegepersonalstärkungsgesetz gesichert.
Sie muss nun zeitnah und vollständig eingeführt und auch ihre Einhaltung gesichert werden: Strafzahlungen müssen um die Verpflichtung zu Bettensperrungen ergänzt werden, ebenso wie um Entlastungstage für Arbeit in Unterbesetzung. Die bis Ende 2024 geplante wissenschaftlich fundierte Personalbemessung muss auf die PPR 2.0 und bis dahin erreichte Verbesserungen aufbauen.