Verschwommenes Foto von einer Situation auf einem Krankenhausflur: Eine Pflegekraft fährt ein Bett mit einem Patienten.

Wenn Arbeit moralisch verletzt

Gerade in der Pflegebranche ist die psychische Belastung groß

Permanente Überlastung gehört zum Arbeitsalltag von Pflegekräften. Viele leiden darunter, dass sie aus Zeitmangel ihren eigenen Ansprüchen an gute Pflege nicht mehr gerecht werden können.

Text: Anne-Katrin Wehrmann
3. August 2022

Die Beschreibungen unter dem Hashtag #moralischverletzt sind beklemmend. „Jemand stirbt allein, weil du musst deinen Plan erfüllen und bis 9 Uhr alle anderen gewaschen haben“, berichtet dort eine Pflegekraft. Eine andere: „Als Schülerin eine sterbende Patientin zum Röntgen gebracht. Anmerkung, dass die Patientin kurz vor dem Tod steht, wird ignoriert. Im Röntgen fängt die Schnappatmung an, ich soll mit ihr wieder auf die Station zurückkommen. Im Fahrstuhl macht sie ihren letzten Atemzug.“ Und Twitter-Userin Desch09 beschreibt in eindringlichen Worten, dass die Arbeitsbedingungen für sie manchmal kaum auszuhalten seien. In jeder Schicht werde sie von Schreien und vorwurfsvollen Blicken verfolgt. Die Zeit reiche nur für rudimentärste Pflege – immer wieder sei sie gezwungen zu entscheiden, wo sie Abstriche mache. „Wir gehen jeden Tag nach Hause und können uns teilweise im Spiegel nicht mehr anschauen, weil wir gegen alles handeln müssen, was wir wissen. Wir investieren so viel Kraft und Energie, dass sie uns in der Freizeit fehlt.“  

„Jemand stirbt allein, weil du musst deinen Plan erfüllen und bis 9 Uhr alle anderen gewaschen haben.“

Moralische Verletzungen: So lautet der Fachbegriff für psychische Belastungen, die aus der Diskrepanz zwischen berufsethischen Idealen auf der einen Seite sowie den systemisch vorgegebenen Möglichkeiten auf der anderen Seite resultieren. Ursprünglich stammt diese Bezeichnung aus der Militärgeschichte. „Es ist erschreckend, dass das Konzept in der Pflege auch so gut passt“, sagt Jennie Auffenberg, Referentin für Gesundheits- und Pflegepolitik bei der Arbeitnehmerkammer. Doch anders als beim Militär, wo Kriegseinsätze zeitlich begrenzt sind und psychologisch vor- und nachbereitet werden, sind Pflegekräfte den belastenden Situationen bei der Arbeit dauerhaft ausgesetzt und fühlen sich häufig alleingelassen mit ihren Sorgen und Nöten. Zu wenig Personal, zu wenig Zeit, zu viele Aufgaben: „Viele Pflegende leiden sehr darunter, sich nicht den eigenen Ansprüchen entsprechend um ihre Patientinnen und Patienten kümmern zu können“, berichtet Auffenberg. „Häufig führt das dazu, dass sie Gefühle von Scham und Schuld entwickeln – und dann irgendwann innerlich abhärten, krank werden oder letztlich kündigen, weil sie die Situation nicht mehr ertragen.“ 

Zu wenig Personal, zu wenig Zeit, zu viele Aufgaben.

Kollektives Problem lässt sich nicht individuell lösen

Doch was lässt sich tun, damit es gar nicht erst so weit kommt? Welche Mittel und Wege gibt es, die moralischen Belastungen im Berufsalltag zumindest zu reduzieren? Für den Bereich der Altenpflege untersucht das aktuell ein Team der Hochschule Esslingen im Rahmen eines praxisorientierten Forschungsprojekts, das vom Land Baden-Württemberg gefördert wird. „Wir haben festgestellt, dass das Thema eine hohe Relevanz hat“, erläutert Projektmitarbeiterin Magdalene Goldbach. Konkrete Maßnahmen seien ursachenbezogen und zielgerichtet abzuleiten – das gelte letztlich für die Altenpflege ebenso wie für die Krankenpflege. „Ganz wichtig ist, dass die Reduzierung moralischen Belastungserlebens nicht allein in der Verantwortung der Pflegenden liegt“, betont die Wissenschaftlerin. „Sondern die Organisation muss die notwendigen Rahmenbedingungen schaffen.“

„[...] die Organisation muss die notwendigen Rahmenbedingungen schaffen.“
Magdalene Goldbach, Hochschule Esslingen

Da moralischen Verletzungen ein strukturelles Problem zugrunde liegt, lässt sich Abhilfe nicht individuell, sondern nur kollektiv schaffen: Davon ist auch Diana Sgolik, zuständig für die Krankenhausbranche im ver.di-Bundesfachbereich Gesundheit, Soziale Dienste, Bildung und Wissenschaft, überzeugt. Als Beispiel für konstruktives gemeinschaftliches Handeln nennt sie die Tatsache, dass in der Gewerkschaft organisierte Krankenhausbeschäftigte zuletzt in 18 deutschen Kliniken sogenannte Entlastungstarifverträge durchgesetzt haben, um dort die Arbeitsbedingungen zu verbessern. „Das ist ein guter Weg, wie die Pflegekräfte gegen moralische Verletzungen ansetzen können“, meint die Gewerkschaftssekretärin. „Durch ihr kollektives Engagement erleben sie das erste Mal wieder Selbstwirksamkeit und die Macht, Dinge verändern zu können.“ Solange die Politik nicht für eine ausreichende Personalbemessung sorge, werde dies die gewerkschaftliche Antwort auf die derzeit unzureichenden gesetzlichen Regelungen bleiben müssen. „Und letztlich sind das die besten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die sich ein Arbeitgeber wünschen kann – denn sie kämpfen für bessere Bedingungen und fliehen nicht aus ihrem Beruf.“

„Aktuell erleben es die meisten als große Belastung, dass es keine verlässlichen Arbeitszeiten und zu wenig planbare Zeit zum Abschalten gibt.“
 Jennie Auffenberg, Arbeitnehmerkammer

Kammer-Referentin Jennie Auffenberg sieht ebenfalls in einer besseren Personalausstattung einen entscheidenden Faktor dafür, dass sich Pflegende um die ihnen anvertrauten Menschen kümmern können, ohne ihren eigenen ethischen Kompass missachten zu müssen. „Aktuell erleben es die meisten als große Belastung, dass es keine verlässlichen Arbeitszeiten und zu wenig planbare Zeit zum Abschalten gibt“, berichtet sie. Gerade weil es sich um ein kollektives Problem handele, seien Einzeltherapien wenig hilfreich: „Was es braucht, sind neben verbesserten psychosozialen Unterstützungsstrukturen auch gezielte Gruppenangebote und kollegiale Beratungen.“ Dabei verweist sie auf Untersuchungen des britischen Psychiaters Neil Greenberg, der die Belastungen von Pflegekräften gerade auch während der Corona-Pandemie untersuchte. Unter anderem stellte er dabei fest, dass eine gute Vorbereitung des Personals auf die Arbeit und die damit verbundenen Herausforderungen das Risiko von psychischen Problemen verringere. Und: Gespräche mit Kolleginnen und Kollegen sowie Beratungen durch erfahrene Personen aus dem Team können für viele Betroffene hilfreich sein. „Ganz entscheidend ist“, so Jennie Auffenberg, „dass dafür dann auch ausreichend Zeit und Raum zur Verfügung gestellt werden.“