Wie fing es an, was gab es für Stolpersteine und wo soll es hingehen? Hauptgeschäftsführer Ingo Schierenbeck und der Direktor des Instituts Arbeit und Politik Professor Andreas Klee im Gespräch über die Arbeitnehmerkammer.
Foto: Jonas Ginter
Unter welchen Voraussetzungen kam es 1921 zur Gründung der Arbeiter- und Angestelltenkammer?
Andreas Klee: Die Kammergeschichte war stark verbunden mit gesamtgesellschaftlichen Entwicklungen. Die Industrialisierung war ein entscheidendes Thema. Es entstanden neue Milieus und durch den Wandel der Produktionsverhältnisse befanden sich viele Menschen plötzlich in abhängigen Arbeitsverhältnissen. Dadurch entwickelten sich neue gesellschaftliche Rahmenbedingungen, die emanzipatorische Prozesse in Gang gesetzt haben. Arbeiterinnen und Arbeiter verstanden sich als eine Gruppe, die ihre Bedürfnisse gegenüber der herrschenden Klasse artikulieren muss.
Welche Entwicklungen nahmen die Arbeiterund Angestelltenkammer im Nationalsozialismus?
Andreas Klee: Wenn wir über die „Gleichschaltung“ im Nationalsozialismus sprechen, fand ein Austausch des Personals statt, es wurden leitende Positionen durch leitende Anhänger des Nationalsozialismus ersetzt. Die Kammern wurden zunächst weitergeführt und letztendlich im Jahr 1936 aufgelöst. Sie sind am Ende auch abgeschafft worden, weil es den Nationalsozialisten nicht gelungen ist, sie in ihre politische Strategie einzubinden.
Keine vier Monate nach Ende des Zweiten Weltkriegs in Bremen nahmen die Arbeiterund die Angestelltenkammer ihre Arbeit wieder auf. Wie konnte das so zügig geschehen?
Ingo Schierenbeck: Die Arbeiter- und Angestelltenkammer sollten den Neuaufbau eines demokratischen Staates mitgestalten, von Anfang an wieder Teil der demokratischen Strukturen sein und diese, wie bereits 1921, stabilisieren.
„Die Kammergeschichte war stark verbunden mit gesamtgesellschaftlichen Entwicklungen.“ Professor Andreas Klee
Welche Aspekte prägten die Kammern in den folgenden Jahrzehnten bis in die Neunzigerjahre?
Ingo Schierenbeck: Die Kammern haben sich in dieser Zeit neu aufgestellt und ihr Selbstverständnis deutlich erweitert. Konkret: Sie haben sich nicht darauf beschränkt, die Interessen von Beschäftigten in die politische Diskussion einzubringen – also auf ihre Aufgabe auch als Gegengewicht, etwa zur Handelskammer oder zur Handwerkskammer. Sie haben darüber hinaus ihre Bedeutung für ihre Mitglieder dadurch gestärkt, dass sie unmittelbar für die Verbesserung der Arbeits- und Lebensverhältnisse der einzelnen Beschäftigten eingetreten sind. So haben sie zunächst vor allem ihren Bildungsbereich deutlich ausgebaut. Die entsprechende Förderung ihrer Mitglieder haben sie nicht nur politisch gefordert, sondern selbst Bildungseinrichtungen gegründet, um Arbeiterinnen, Arbeitern und Angestellten berufliche Aufstiege und höhere Berufsabschlüsse zu ermöglichen.
Neben eigenen Weiterbildungsangeboten haben die Kammern vor allem die Rechts- und Steuerberatungen deutlich ausgebaut, um ihre Mitglieder auch unmittelbar und individuell bei konkreten Problemen zu unterstützen. Mit den aus den zahlreichen Beratungen gewonnenen Erkenntnissen konnten sie zudem ihre politischen Positionen und Forderungen nachhaltig begründen und auf Veränderung der rechtlichen Rahmenbedingungen für Beschäftigte hinwirken.
„Die soziale Spaltung der Gesellschaft darf sich nicht in einem weiteren Auseinanderdriften der Einkommen und Arbeitsverhältnisse fortsetzen.“ Ingo Schierenbeck
Im Jahr 2000 fusionierten die beiden Kammern. Welche Bedeutung hat die Arbeitnehmerkammer heute als Interessenvertretung im politischen System in Bremen?
Andreas Klee: Die Arbeitnehmerkammer ist eine durch und durch etablierte Institution im politischen System in Bremen. Dies haben sich die Gründerväter der Kammern immer gewünscht: Die Interessen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer werden selbstverständlich in für sie politisch relevante Diskurse einbezogen.
Ingo Schierenbeck: Die Kammer kann für sich in Anspruch nehmen, die Gesamtinteressen aller Beschäftigten über die einzelnen Branchen hinweg zu vertreten. Sie gibt den Arbeitnehmerinteressen eine größere gesellschaftliche Breite und damit eine stärkere politische Bedeutung.
Wo sollte sich die Kammer thematisch noch hinwenden?
Andreas Klee: Eine Frage, die sich mir im Zuge der Auseinandersetzung mit der Entwicklung der Kammer gestellt hat: Inwiefern können wir eigentlich Arbeitsverhältnisse noch in einem lokalen Kontext betrachten? Ist es überhaupt noch aktuell oder zukünftig realistisch, Arbeit aus einer rein bremischen Perspektive betrachten oder beeinflussen zu wollen? Wenn man sich die bremischen Großunternehmen anguckt, wie Airbus, ArcelorMittal, Daimler und andere, das sind natürlich Unternehmen, für die Bremen zwar nach wie vor ein Standort ist. Aber deren Verständnis von dem was Arbeit ist, was gute Arbeit ist, was effiziente Arbeit ist, wird ganz woanders entwickelt und in ganz anderen Kontexten diskutiert. Für mich ist das eine sehr spannende Frage: Wie gelingt es, mithilfe von Kooperationen und über den Austausch mit anderen Organisationen dieses Verständnis für die Bedeutung der Perspektive von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern über das Land Bremen hinaus zu entwickeln?
Ingo Schierenbeck: Ich sehe in den kommenden Jahren drei wesentliche Herausforderungen für die Arbeit der Kammer. Sie muss sich für ein Recht auf Weiterbildung einsetzen, insbesondere für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die über keinen anerkannten Berufsabschluss verfügen. Außerdem darf sich die soziale Spaltung unserer Gesellschaft nicht in einem weiteren Auseinanderdriften der Einkommen und Arbeitsverhältnisse der Beschäftigten fortsetzen. Die Zahl der prekär Beschäftigten im Niedriglohnbereich hat zugenommen und der Anteil der Arbeitsverhältnisse, die tariflich geregelt und entlohnt werden, sinkt. Unser Ziel muss es deshalb sein, die Tarifbindung in Bremen wieder zu erhöhen. Und wir müssen darauf achten, dass die Auswirkungen der Digitalisierung und künstlichen Intelligenz auf die Arbeitsplätze unter Berücksichtigung der Interessen der Beschäftigten gestaltet werden.