Text: Ulf Buschmann
8. September 2022
Illustration: Istock/Flashvector
Irgendwann war der Zug irgendwie abgefahren für den heute 52-jährigen Rainer Leisegang. Den Hauptschulabschluss schaffte er mit Ach und Krach – vor allem deshalb, weil es mit dem Lesen und Schreiben, aber auch mit dem Rechnen haperte. Daran hat sich bis heute kaum etwas geändert. Zwar ist Rainer Leisegang nicht arbeitslos, doch seine Jobs sind bis heute schlecht bezahlt. Und wenn er es mit Behörden zu tun hat, ist er auf Hilfe angewiesen. Dabei ist der 52-Jährige ein interessierter Mensch. Gerne geht er ins Museum, zu Konzerten oder ins Kino.
Rainer Leisegang gehört zu den errechneten rund 6,2 Millionen erwerbstätigen Deutschen im Alter von 18 bis 64 Jahren, die nicht oder nur eingeschränkt lesen und schreiben können. So steht es in der LEO-Studie von 2018. Demnach sind es alleine im Land Bremen 50.000 Frauen und Männer. Dies macht einen Anteil von immerhin zehn Prozent der Berufstätigen aus. Sie sind laut Studie „gering literalisiert“.
Nicht genug Platz im Weserstadion
Susanne Achenbach, Referentin für Bildung und Ausbildung mit Schwerpunkt Alphabetisierung und Grundbildung der Arbeitnehmerkammer Bremen, zieht einen bitteren Vergleich: Im Land Bremen hätten mehr Menschen Probleme mit Lesen und Schreiben als ins Weserstadion passen. Sie geht noch einen Schritt weiter. Da das offizielle Renteneintrittsalter heute bei 67 Jahren liege, müsse der Kreis der Erwerbstätigen richtigerweise bis zu dieser Altersgruppe erweitert werden. Auf dieser Basis sind ihren Berechnungen zufolge fast 54.000 Menschen in Bremen und Bremerhaven „gering literalisiert“.
Die Folge: Berufliches Weiterkommen, persönliche Entwicklung und gesellschaftliche Teilhabe insgesamt bleiben auf der Strecke. Diesen Menschen fehle mit der Schriftsprache die notwendige Basis und die Grundbildung. Denn genau genommen ist Alphabetisierung ein Aspekt der sogenannten Grundbildung – hierzu gehören Gesundheitsbildung sowie finanzielle, digitale, sprachliche und politische Bildung. Aber auch Umweltbildung, kulturelle Bildung und emotionale Bildung.
Alphabetisierungsdekade
Nachzulesen ist das alles auf der Internetseite der im Oktober 2021 eingerichteten Bremer „Servicestelle Grundbildung und Alphabetisierung“ [https://grundbildung-bremen.de/]. Sie ist beim Evangelischen Bildungswerk angedockt und die Schnittstelle für alle anderen Einrichtungen in Bremen – auch für die Arbeitnehmerkammer. Dort treffen alle Fachleute wie Achenbach aufeinander. Sie alle eint die Überzeugung, dass es in Sachen Grundbildung und Alphabetisierung noch eine ganze Menge zu tun gibt – nicht nur wegen der hohen Zahlen. Auch ein Umdenken sei notwendig.
Längst sei es nicht mehr damit getan, Rechtschreib- und Lesekurse anzubieten. Alleine schon deshalb, weil sich der traditionelle Blick in diesem Bereich auf Menschen mit Deutsch als Muttersprache beziehungsweise Deutsche richtet. Doch alleine durch die Migrationsbewegungen der vergangenen Jahre sei die Gruppe derer ohne Grundbildung viel heterogener geworden. Dass hier etwas geschehen muss, ist spätestens seit 2016 klar.
In dem Jahr wurde die „Nationale Dekade für Alphabetisierung und Grundbildung“ [https://www.alphadekade.de]ausgerufen. Auf Basis des Nachhaltigkeitsziels 4 der Vereinten Nationen – „Hochwertige Bildung weltweit“ – sollen eigentlich bis 2030 alle Jugendlichen und ein Großteil der sogenannten schriftunkundigen Erwachsen das Lesen, Schreiben und Rechnen erlernt haben. Die praktische Umsetzung und Koordinierung obliegt der Kultusministerkonferenz (KMK) und im Land Bremen somit die Senatorin für Kinder und Bildung.
Thema der Zukunft
Um dieses Ziel zu erreichen, dürften Institutionen und die Politik nicht länger so tun als ob Analphabetentum eine gesellschaftliche Randerscheinung ist. Alle seien aufgefordert, ihre Wahrnehmung zu verändern. Weil es laut Achenbach „keinen Prototypen“ in Sachen Analphabet gibt, fordert sie unter anderem passgenaue Kurse. Grundbildung an sich müsse überdies Bestandteil der Ausbildung von Lehrerinnen und Lehrern sein. An den Schulen fehle es hierzu überdies an Sensibilität.
„Grundbildung ist für uns alle relevant“, sagt auch Sonja Spoede, Leiterin der Servicestelle Grundbildung und Alphabetisierung. Alles was damit zu tun habe, so Spoede, sei ein „immer größeres Zukunftsthema“. Auch sie fordert, schon in den Schulen zu beginnen – etwa beim Übergang von Schule und Beruf: „Man verliert die Menschen sonst.“ Wichtig ist für sie für die Zukunft das Thema emotionale Grundbildung, um beispielsweise Konflikte durchzustehen und bei der ersten Meinungsverschiedenheit während der Berufsausbildung nicht gleich das Handtuch zu schmeißen.
In die Familien gehen
Arbeitnehmerkammer-Referentin Achenbach geht noch einen Schritt zurück: Sie plädiert dafür, bereits in den Familien anzusetzen – nicht nur, um Grundbildung insgesamt zu vermitteln, sondern beispielsweise auch, um Eltern über ihre Kinder ans Lesen und Schreiben heranzuführen. Das Ganze dürfe jedoch nicht nach althergebrachten Mustern geschehen: Irgendwo ein paar Broschüren auszulegen funktioniere heute nicht mehr.
Stattdessen hat Achenbach viel für die Strategie übrig, in die Orts- und Stadtteile zu gehen, wie es Bremen und Bremerhaven bei der Corona-Impfkampagne gemacht haben. So seien niedrigschwellige Angebote möglich. Davon profitieren nicht nur Eltern, sondern auch Jugendliche: „Man muss sie dort abholen, wo sie sind.“ Und dann sind da noch die Kommunikationstool: Warum nicht WhatsApp und Co. zur Verbesserung der Schreib- und Lesefähigkeit nutzen?