„Die Zeit drängt“

Interview mit Peer Rosenthal, Hauptgeschäftsführer der Arbeitnehmerkammer

Corona-Pandemie, Energiepreiskrise, Inflation und dann noch die Klimakrise – wir stehen vor großen Heraus­forderungen. Was das für das Land heißt und was die Arbeitnehmerkammer nun bei der ­anstehenden Bürgerschaftswahl von der ­Politik fordert, berichtet Hauptgeschäftsführer Peer Rosenthal im Interview.

Fragen: Insa Lohmann
Foto: Kay Michalak
28. Februar 2023

Die Politik in Bremen hat große Aufgaben zu bewältigen. Was muss jetzt im Land Bremen passieren und warum ist die Bürgerschaftswahl im Mai dafür so entscheidend?

Peer Rosenthal: Die nächste Legislaturperiode ist entscheidend, um den Wandel der Arbeitswelt zu gestalten, die Wirtschaftskraft durch klimagerechte Maßnahmen zu er­­halten, Beschäftigung zu sichern und Arbeitsbedingungen zu verbessern. Diese Fragen müssen jetzt im Mittelpunkt stehen, denn die Zeit drängt. Dafür brauchen wir einen handlungsfähigen Staat, der die notwendigen Zukunftsinvestitionen zum Beispiel für eine klimaneutrale Stahlproduktion auf den Weg bringt. Und der eine Qualifizierungsoffensive einleitet, damit Beschäftigte gut durch den Wandel kommen und die Klimawende nicht am Fachkräftemangel scheitert.

Die Zahl der Beschäftigten im Land Bremen ist höher denn je. Doch viele sind in Minijobs oder Leiharbeit beschäftigt, wenige Unternehmen noch tarifgebunden, Fachkräfte fehlen. Welche Forderungen hat die Arbeitnehmerkammer hier?

Absolut erfreulich ist die Rekordbeschäftigung im Land Bremen. Der Arbeitsmarkt ist bislang gut durch die ­Krisen gekommen. Beim näheren Hinsehen fällt jedoch auf, dass vor allem Teilzeitjobs, Minijobs und Leiharbeit zu­­genommen haben. Außerdem werden immer weniger Beschäftigte nach Tarif bezahlt – und die Grundlage für gute Arbeit ist ein Tarifvertrag. Daher müssen weitere Anreize zum Beispiel in der Wirtschaftsförderung gesetzt werden, um die Tarifbindung zu erhöhen. Den Mindestlohn im Bund und im Land braucht es ergänzend, um untere Haltelinien einzuziehen. Und wir müssen dahin schauen, wo es vermutlich auch nicht gut läuft: beim Arbeitsschutz, bei der Erfassung von Arbeitszeiten und beim Lohn. Entsprechende Verstöße sollten durch eine Hotline einfach gemeldet werden können.

Trotz wachsender Beschäftigung hinkt Bremen bei der Wirtschaftsentwicklung anderen Bundesländern hinterher. Wie kann das Land aufholen?

Der Umstieg auf erneuerbare Energien bietet gerade für Bremen auch Chancen – und die gilt es zu nutzen. Die großen Industriebranchen wie Stahl, Automobil und Luftfahrt müssen sich klimaneutral aufstellen. Wenn das gelingt, ­können wir hier eine Vorreiterolle einnehmen und Arbeitsplätze langfristig sichern. Um unabhängiger von fossilen Energieträgern zu werden, sollte Bremen sich als Energieland positionieren und die Potenziale der Wasserstofftechnologie nutzen. Dazu gehören entsprechende Bildungsangebote: Eine Wasserstoffakademie könnte ein wichtiger Baustein sein. Auch das Gesundheitswesen als großer Arbeitgeber in ­Bremen muss dringend weiterentwickelt werden. Weiterhin sind die Häfen ein wichtiger Beschäftigungsbereich, der in Zeiten von Automatisierung und Globalisierung zu­­nehmend unter Druck gerät. Wir fordern, dass nicht nur in die Moderni­sierung der Kajen investiert wird, sondern auch in Köpfe, damit die Beschäftigten eine gute Perspektive haben.

Porträt des Hauptgeschäftsführers der Arbeitnehmerkammer, Peer Rosenthal
Peer Rosenthal, Hauptgeschäftsführer der Arbeitnehmerkammer Bremen

Der demografische Wandel wird den Arbeitsmarkt ­gravierend verändern, eine ganze Generation gut ausgebildeter Menschen geht in Rente. Wie kann trotzdem sichergestellt werden, dass Bremen genügend ­Fachkräfte zur Verfügung stehen?

In den nächsten zehn bis 15 Jahren gehen 85.000 gut ausgebildete Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Rente. Diese Lücke muss geschlossen werden. Der wichtigste Hebel ist aus unserer Sicht die Stärkung der dualen Ausbildung, denn noch immer finden zu viele junge Menschen keinen Ausbildungsplatz. Der Ausbildungsfonds kann helfen, dass Betriebe mehr ausbilden und junge Menschen auch mit niedrigen Schulabschlüssen eine Chance bekommen. Beschäftigte und Arbeitslose ohne abgeschlossene Ausbildung sollten Möglichkeiten zum Berufsabschluss eröffnet werden – zum Beispiel über den neuen Qualifizierungsbonus. Wir fordern außerdem, das Bremer Modell der Aufstiegsfortbildungs­prämie fortzusetzen: Damit können sich Fachkräfte weiterentwickeln – und das nicht nur in männerdominierten Be­­rufen, sondern beispielsweise auch bei der Weiterbildung zur Erzieherin.

In keinem anderen Bundesland sind so wenig Frauen erwerbstätig wie hier. Was muss nun passieren, damit sie auf dem Arbeitsmarkt in Bremen nicht den Anschluss verlieren?

Am wichtigsten ist der Ausbau der Kinderbetreuung. Hierfür braucht es bedarfsgerechte, verlässliche und flexible Angebote im Krippen- und Kitabereich. Wir fordern höhere Investitionen in Einrichtungen, Plätze und Ausbildung. Um die Betreuungskapazitäten auszuweiten, benötigen wir mehr Personal – das reduziert auch die Arbeitsbelastung der einzelnen Beschäftigten. Der hohe Bedarf an Fachkräften kann aber nur gedeckt werden, wenn die Ausbildung attraktiver und tariflich vergütet wird – so wie bei der Praxisintegrierten Ausbildung – PiA. Unsere Forderung: Die Zahl dieser Plätze kurzfristig verdreifachen.

Im Land Bremen leben und arbeiten Menschen aus ganz Europa, viele unter schlechteren Rahmenbedingungen. Wie können Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer mit Migrations- oder Fluchtgeschichte in puncto Bildung und Beschäftigung besser unterstützt werden?

Nicht nur der Zugang zu Sprachkursen, auch die Anerkennung ausländischer Berufsabschlüsse muss schneller gehen. Das erfordert mehr Personal – beispielsweise bei den anerkennenden Stellen. Eine Perspektive für Menschen mit Fluchtgeschichte auf dem Arbeitsmarkt ist vor allem dann möglich, wenn erteilte Aufenthaltstitel rechtzeitig verlängert werden und der Ermessensspielraum bei der Erteilung von Aufenthaltstiteln weiter genutzt wird. Je sicherer die Perspektiven, desto besser die Chancen auf eine nachhaltige Teilhabe an Arbeit.