Bücher können dazu beitragen, Probleme zu erkennen, sagt die österreichische Bestseller-Autorin Mareike Fallwickl
Fragen: Anne-Katrin Wehrmann
Foto oben: Istock
Foto links: Gyöngyi Tasi
1. September 2024
BAM: Frau Fallwickl, in Ihrem Roman antwortet eine der Frauen auf die Frage, was es denn sei, was da gerade passiere: „Ein kollektiver Burn-out. Und wir haben alle gewusst, dass es dazu kommen wird.“ Warum sind die Frauen so erschöpft, dass sie sich nur noch auf die Straße legen können?
Mareike Fallwickl: Unser gesamtes System basiert auf der unbezahlten körperlichen und emotionalen Arbeit von Frauen: 12 Milliarden Stunden Care-Arbeit werden weltweit jeden Tag geleistet, allein in Deutschland wäre diese Art von Arbeit eine Billion Euro im Jahr wert, in Österreich hätte sie während der Pandemiejahre 45 Prozent der gesamten Wirtschaftsleistung ausgemacht. Die Erschöpfung der Frauen ist kein zufälliges Nebenprodukt von Patriarchat und Kapitalismus, sie resultiert vielmehr aus der gezielten und umfassenden Ausbeutung.
Was haben Sie im Laufe Ihrer Recherchen über prekäre Arbeit und die Anerkennung der Menschen, die sie leisten, gelernt?
Wer in der gesellschaftlichen Hierarchie oben steht, tut das, weil andere unten stehen. Und die Menschen, die wir nach unten drängen, leiden an der Ausbeutung, der Missachtung ihrer Leistung. Dabei sind sie es, die unser Getriebe am Laufen halten, Millionen von kleinen Rädchen, ohne die nichts funktioniert. Die heutigen Dienstleistungen sind ausbeuterischer als es die klassische Industriearbeit gewesen ist. Es gibt keine geregelten Arbeitszeiten, keinen Feierabend, dafür ständige Kontrolle: Die App bei Essenslieferantinnen und -lieferanten erhebt beispielsweise Daten wie Fahrgeschwindigkeit, Zeit beim Kunden, Anzahl der Aufträge. Es kommen Warntöne und automatisierte Anrufe, damit man weiterhetzt. Das Unternehmen weiß alles über die Rider, sie aber können das Unternehmen nicht erreichen, nicht mal bei einem Unfall. Der Fahrradverschleiß ist teuer, das Handy-Datenvolumen auch, wenn etwas kaputt ist, haben sie kein Einkommen. Das ist ein Abwertungsprozess, der als digitale Unterschichtung bezeichnet wird. Wir haben sogar Begriffe für die Entmenschlichung, die wir selbst verursachen und zulassen.
Sie haben für Ihr Buch mit vielen Frauen gerade auch aus dem Gesundheitswesen gesprochen. Was hat Sie besonders berührt?
Ich bin nicht an den Roman herangegangen mit dem Vorhaben, über die Pflege zu schreiben, das ist aus der Figur heraus entstanden. Ruth ist Mitte fünfzig, und an ihr wollte ich zeigen, was eine Frau alles leistet, wie sie sich kümmert bis zur Selbstaufgabe und über sämtliche Grenzen geht. Was braucht es, damit so eine Frau in die Knie geht und nicht mehr aufsteht? Also habe ich überlegt, was könnte Ruth machen, und habe ins Internet geschrieben: Ich suche Frauen, die in einem Krankenhaus oder einem Altersheim tätig sind und mir Fragen beantworten können. Viele Frauen haben sich gemeldet, und was da an Geschichten gekommen ist, was ich da gelesen habe, hat mich so erschüttert, dass klar war: Dieser Roman muss davon erzählen. Nichts in Ruths Kapiteln ist erfunden. Diese Geschehnisse sind alle wahr.
„Frauen könnten innerhalb kürzester Zeit die gesamte Ökonomie und das Zusammenleben, wie wir es kennen, zum Erliegen bringen.“
Immer wieder wird gesagt, dass ohne Care-Arbeit das System zusammenbricht. Wie sind Sie vorgegangen, um sich so einen radikalen Stillstand auszumalen und die möglichen Konsequenzen zu beschreiben?
Ich habe viel recherchiert. Wie schnell das System zusammenbricht, wo es anfängt zu bröckeln, wer es als Erster merkt – das hat mich am meisten interessiert. Literatur kann alle Schritte gehen, zu denen wir in der Realität (noch) nicht in der Lage sind, das fasziniert mich sehr. Frauen könnten innerhalb kürzester Zeit die gesamte Ökonomie und das Zusammenleben, wie wir es kennen, zum Erliegen bringen. Darüber wollte ich schreiben.
Was muss geschehen, damit pflegende Menschen endlich eine angemessene Anerkennung erfahren?
Der Pflegesektor hat mit einem unglaublichen Nachwuchsproblem zu kämpfen und gleichzeitig mit einer hohen Exitquote, dem Pflexit. Dabei werden wir immer älter und leben länger, da wäre es logisch, dass wir den Gesundheitssektor stärken und ausbauen. Stattdessen kürzen wir seit Jahrzehnten die finanziellen Mittel und haben eine Monetarisierung menschlicher Gesundheit gestartet: Krankenhäuser wurden privatisiert, und weil man mit kranken Menschen nicht expandieren kann, erzielt man Gewinne durch Einsparungen. Eingespart wird am Personal, an der Ausstattung, an der Ausbildung, an der medizinischen Qualität – wenn beispielsweise Herzklappen eingesetzt werden, bei denen man weiß, dass sie nach wenigen Jahren kaputtgehen, die aber billiger sind. Und man schaut auch, dass man Patienten so schnell wie möglich wieder loswird, sofern sie kein Geld bringen. Das nennt man blutige Entlassungen. Das Umdenken, das hier geschehen muss, ist viel größer und gewichtiger: Sorgearbeit sollte im Zentrum unserer Gesellschaft stehen, nicht am Rand.
„Sorgearbeit sollte im Zentrum unserer Gesellschaft stehen, nicht am Rand.“
Inwiefern kann Literatur dazu beitragen?
Der erste Schritt für Veränderung ist immer Bewusstwerdung. Wir müssen ein Problem erst einmal als solches erkennen, um eine Lösung dafür zu finden. Dazu tragen Bücher bei.
Wie optimistisch sind Sie, dass sich die Verhältnisse tatsächlich ändern werden?
Sie werden sich ändern müssen, weil die Menschen, so sehr sie Geld und Macht lieben, in erster Linie eines wollen: überleben. Und im jetzigen System, das uns Unterdrückung, Krieg und Klimakatastrophe bringt, überleben wir nicht sehr gut.