Wer bislang Hartz IV-Leistungen bekommt, erhält ab 1. Januar das neue Bürgergeld. Dieses beträgt für einen alleinstehenden Erwachsenen 502 Euro – 53 Euro mehr als bisher. Selbst das reicht angesichts explodierender Lebensmittelpreise nicht aus. Zumindest nicht für eine hinreichend gesunde Ernährung. Das belegen gleich zwei wissenschaftliche Studien zum Zusammenhang zwischen Mangelernährung oder gar Hunger und den Erhalt von Transferleistungen.
Text: Ulf Buschmann
Foto: Istock
8. Dezember 2022
Familie Meyerdierks wohnt irgendwo in Bremen. Zwei Kinder im Alter von fünf und sechs Jahren, die beide in die Kita gehen, Mutter Regine und Vater Bernhard. Die Meyerdierks bekommen Hartz IV plus Zusatzleistungen. Auch etwas dazuverdienen dürfen sie sich. Unterm Strich jedoch ist das Geld knapp. Die rasant steigenden Preise haben die Lage noch verschärft. Obst und Gemüse gibt es deshalb zu Hause für die Kinder viel seltener – wenn die Eltern mal welches eingekauft haben, ist es viel weniger. Und statt Vollkornbrot muss es das billige Weißbrot für 99 Cents sein. Entsprechend leiden die beiden Kinder unter Mangelerscheinungen. Zum Glück für die Kinder gibt es dank des „Gute-Kita-Gesetzes“ kostenlos Obst in ihren Gruppen.
Aber was auf den ersten Blick wie ein Sprung nach oben aussieht, entpuppt sich bei genauerer Betrachtung als nicht ausreichend. Denn alleine Nahrungsmittel sind laut Verbraucherzentrale von Oktober 2021 bis Oktober 2022 um 20 Prozent teurer geworden.
Dass es vielen Menschen im Hartz IV-Bezug so geht, hatte die Berliner Ampelregierung erkannt. Die Einführung des Bürgergeldes zum 1. Januar sollte die Situation der Menschen verbessern – unter anderem mit spürbar steigenden Sätzen. Ein alleinstehender Erwachsener bekommt beispielsweise 502 Euro. Dies sind 53 Euro oder zwölf Prozent mehr. Aber was auf den ersten Blick wie ein Sprung nach oben aussieht, entpuppt sich bei genauerer Betrachtung als nicht ausreichend. Denn alleine Nahrungsmittel sind laut Verbraucherzentrale von Oktober 2021 bis Oktober 2022 um 20 Prozent teurer geworden.
Was Familie Meyerdierks am eigenen Leib beziehungsweise dem ihrer Kinder merkt, belegen zwei jüngst erschienene wissenschaftliche Studien: den Zusammenhang zwischen Mangelernährung gerade bei Kindern und Jugendlichen und der Einkommenssituation. In ihrem Gutachten zur Höhe der bisherigen Hartz IV-Sätze für eine gesunde Ernährung, kommen Ernährungswissenschaftler der Universität Bonn, der Berliner Charité und weiterer Hochschulen zu dem Schluss: Die Hartz IV-Sätze würden unabhängig vom Ernährungsstil nicht ausreichen, „um die realen Kosten zu decken.“
Die Wissenschaftler haben herausgefunden, dass alleine der Energiebedarf von Kindern bis zum zehnten Lebensjahr nicht komplett gedeckt werden kann. Laut ihren Berechnungen gibt es für Kinder und Jugendliche zwischen 3,25 Euro und 4,29 Euro pro Tag. Doch der Bedarf liege um 50 Prozent höher. Dabei haben die Wissenschaftler bereits die höchstmögliche Subventionierung von Schulmittagessen berücksichtigt.
„Es gibt immer mehr Kinder, die ohne Brotdose in die Schule geschickt werden.“
Sara Dahnken (DRK)
Zu ähnlichen Ergebnissen kommen auch die Autoren von der Charité und der Universität Potsdam in ihrem Gutachten. Sie fragen: Wie sollten sich Menschen idealerweise ernähren? Dafür hatten sie die Warenkörbe nach den geltenden Empfehlungen der Deutschen Gesellschaft für Ernährung (DGE) zusammengestellt. Die Grundlage ihrer Berechnungen waren die Preise von Supermärkten und Discountern Anfang 2021. Demnach lag der Essensbedarf für eine Musterfamilie zwischen 652 und 1.121 Euro. Der Anteil für Lebensmittel im Regelsatz für 2022 liegt sowohl für erwachsene Einzelpersonen, wie auch für Bedarfsgemeinschaften weit darunter. Ergebnis: Weder die Hartz IV-Sätze noch der Mindestlohn reichten aus, „um einen gesunden Lebensstil zu gewährleisten.“
Damit bestätigen die Wissenschaftler das, was im Grunde längst bekannt ist. Auch das Deutsche Kinderhilfswerk (DKHW) kommt auf seiner Internetseite zu dem Schluss, dass ein Tagessatz in Hartz-IV-Haushalten nicht für eine gesunde Ernährung ausreiche, „noch nicht einmal dann, wenn ausschließlich in Billig-Discountern eingekauft wird.“ Auch in einem Gutachten des wissenschaftlichen Beirats für Agrarpolitik, Ernährung und gesundheitlichen Verbraucherschutz des Bundesernährungsministeriums heißt es: „Auch in Deutschland gibt es armutsbedingte Mangelernährung und teils auch Hunger.“
Weniger Geld, weniger volle Kühlschränke, knurrende Mägen – dieses Phänomen zeigt sich nicht mehr nur in Stadtteilen Bremens und Bremerhavens mit verbreiteter Einkommensarmut. Selbst in vermeintlich gutsituierten Ecken Bremens wie Schwachhausen, Oberneuland und Borgfeld kommt es vor. Diese Beobachtung macht Sara Dahnken, Leiterin der Kindes- und Jugendförderung des Deutschen Roten Kreuzes (DRK). Der Verband betreibt unter anderem neun Jugendfreizeitheime in Bremen.
„Wir machen immer mehr Koch- und Backangebote“, sagt Sara Dahnken. Und sollte die gemeinsame Zubereitung einmal nicht auf dem Plan stehen, würden die Jugendlichen zum bereitstehenden Obst greifen. Sara Dahnken erzählt von jungen Leuten, die fünf Bananen hintereinander futtern, weil sie hungrig sind. Sie und ihre Mitarbeitenden haben darüber hinaus festgestellt: „Es gibt immer mehr Kinder, die ohne Brotdose in die Schule geschickt werden.“ In den Familien fehlen selbst die fünf Euro, um sich Essen in der Mensa zu kaufen – zumal die Preise auch dort steigen.
"Die Hartz IV-Sätze reichen unabhängig vom Ernährungsstil nicht aus, um die realen Kosten zu decken.“
Ernährungswissenschaftler der Universität Bonn, der Berliner Charité und weiterer Hochschulen
Wie bei Familie Meyerdierks, wird das Loch in der Haushaltskasse auch bei den Kindern und Jugendlichen zum Monatsende größer, mit denen es die Einrichtungen des Roten Kreuzes zu tun haben – mit Konsequenzen für den Verband. „Wir fangen als Jugendförderung viel auf, aber wir haben auch immer weniger Geld“, sagt Sara Dahnken.
In einer vergleichsweise guten Lage sind die Mädchen und Jungen in den Kindergruppen des Mütter- und Familienzentrums Huchting. Sie und ihre Eltern haben zu 90 Prozent einen Migrationshintergrund, erklärt Verena Behrens, Geschäftsführerin des Trägervereins. Für einen Zusatzbeitrag von monatlich 15 Euro sei es möglich, alle Kinder mit Essen zu versorgen. Dabei orientiert sich das Mütter- und Familienzentrum an den Empfehlungen der DGE – auf dem Speiseplan stehen Leckereien wie Rote Linsensuppe oder Mediterranes Ofenhähnchen mit Gemüse und Reis. Das Problem sei eher, dass gerade diese Kinder viele Lebensmittel und Gerichte nicht kennen, weiß Verena Behrens.
Generell sei in den Familien zu bemerken, dass das Geld knapper werde – auch bei den Mitarbeitenden. Verena Behrens stellt eine latente Unruhe und Sorge wegen der unsicheren Zukunft fest. Dies bestätigt Britta Erdmann, Leiterin der evangelischen Kita „Jaburg“ in Vegesack: „Die Eltern sind kribbelig.“ Ihre Stellvertreterin Lisa Hellmann ist froh, dass keines der rund 80 Kinder Hunger hat, weil es zu Hause nichts gibt. Dass es knapper wird, haben beide auf andere Art festgestellt: Es fehle den Eltern an Geld für die Ausstattung mit Hausschuhen, Schneeanzügen und Regenkleidung.