Zeit für neue Perspektiven

Die Bildungszeit

In Bremen haben Beschäftigte einen gesetzlichen Anspruch auf Bildungszeit – doch viele lassen diese Chance ungenutzt. Dabei ist der Zugang einfach und die Auswahl an Kursen vielfältig.

Text: Suse Lübker
Foto: Jonas Ginter
1. Februar 2025

Einfach mal für ein paar Tage den Betrieb verlassen und sich auf ganz andere Themen konzentrieren – für Mercedes Dargatz war die fünftägige „Auszeit“ eine Bereicherung sowohl für ihren Alltag als auch für ihr Berufsleben. Im Herbst 2023 nahm die Heilerzieherin an einer 5-tägigen Veranstaltung zum Thema „Arm und Reich“ bei der wisoak (Wirtschafts- und Sozialakademie) in Bremerhaven teil. Es war ihre erste Bildungszeit in 20 Jahren Berufstätigkeit. Eine Freundin hatte sie auf diese Möglichkeit aufmerksam gemacht und ihr das Programm der wisoak gezeigt.

Alle Beschäftigten im Land Bremen haben bereits seit 50 Jahren einen gesetzlichen Anspruch auf Bildungszeit: 1975 trat das Bildungszeitgesetz in Kraft – mit dem Ziel, die berufliche, allgemeine und politische Weiterbildung zu fördern und den Beschäftigten die Möglichkeit zu geben, sich während der Arbeitszeit weiterzubilden. Innerhalb von zwei Jahren stehen allen Beschäftigten zehn Tage zu, in denen sie sich fort- oder weiterbilden können – bei vollem Gehalt.

„Es fällt den Menschen schwer, von ihrem Recht Gebrauch zu machen“

Doch noch immer ist dieses Privileg wenig bekannt und wird von vielen nicht genutzt, wie verschiedene empirische Studien belegen. Hinzu kommt, dass Beschäftigte in kleinen und mittelständischen Unternehmen oft zögern, sich zusätzlich zu ihrem Jahresurlaub ein paar Tage freizunehmen, um sich fortzubilden. Asmus Nitschke, Bildungsreferent bei der wisoak, berichtet: „Gerade bei gut gefüllten Auftragsbüchern fällt es den Menschen schwer, von ihrem Recht Gebrauch zu machen. Denn das ist weder im Team noch bei den Vorgesetzten gut angesehen“.

Einerseits verständlich, andererseits bereichert die Bildungszeit nicht nur den Einzelnen, sondern stärkt soziale Kompetenzen ebenso wie die seelische und körperliche Gesundheit – ein Gewinn auch für Unternehmen. Dennoch, betont Nitschke, sei ein direkter beruflicher Bezug nicht erforderlich. Ziel der Bildungszeit ist es vielmehr, neue Impulse zu setzen, den Horizont zu erweitern und eine Auszeit vom Arbeitsalltag zu ermöglichen. Die Teilnehmenden sollen Zeit haben, sich auf persönliche oder gesellschaftliche Themen einzulassen, die oft im Joballtag keinen Platz finden.

Ein gutes Beispiel sind die Seminare von Beenhard Oldigs. Der Dozent bietet seit Jahren Kurse zur politischen Bildung an, die meisten sind sehr gefragt. Dazu gehört zum Beispiel das Thema Kommerzialisierung und Fußball – hier gibt es „Wartelisten ohne Ende“, berichtet der Dozent. Das liege auch daran, vermutet Oldigs, dass er häufig bekannte Referent*innen einlädt, die aus ihrem Alltag berichten. Das sei für viele Teilnehmende sehr reizvoll. Oldigs beobachtet zudem, dass immer häufiger auch jüngere Menschen an seinen Kursen teilnehmen. Einige sind zum ersten Mal dabei. „Das Publikum verändert sich: Während in der Regel hauptsächlich Beschäftigte aus dem Hafen oder den Bremer Großbetrieben teilnehmen, ist jetzt auch mal eine Bankangestellte dabei".

Breites Angebot – von Sprachen bis Yoga

Ob Sprachkurs, Gesundheitsseminar oder politische Bildung – das Kursangebot in Bremen ist groß. Einrichtungen wie die Volkshochschule, das Evangelische Bildungswerk oder die wisoak bieten ein breites Spektrum an Kursen in Bremen und umzu an. Auch die Dauer der Kurse variiert von einem bis zu fünf Tagen.

Bei der wisoak werden Kurse mit lokalem Bezug besonders häufig nachgefragt, etwa zur Geschichte Bremens oder zum Thema Verkehrspolitik. „Man merkt, welche Themen gerade im gesellschaftlichen Fokus stehen“, erläutert Nitschke. So interessierten sich zurzeit viele Beschäftigte für aktuelle politische Fragen oder technologische Entwicklungen wie etwa Künstliche Intelligenz. Gleichzeitig seien Gesundheitsangebote, wie Yoga-, Entspannungs- oder Achtsamkeitskurse konstant gefragt. „Diese Angebote helfen Beschäftigten, im stressigen Arbeitsalltag besser zur Ruhe zu kommen“, sagt Nitschke.

Wissen dazugewinnen und neue Netze knüpfen

Mercedes Dargatz hat sich für ein Thema entschieden, das sie persönlich und beruflich sehr beschäftigt: „Ich lebe und arbeite im Bremerhavener Stadtteil Lehe – da ist Armut ein brisantes Thema“, erklärt die Heilerziehungspflegerin. Von der Bildungszeit erhoffte sie sich, mehr Informationen zu bekommen, ihren Blick zu schärfen und ihr Wissen auch an Kolleginnen und Kollegen weitergeben zu können.

Andrea Immoor nimmt schon sehr lange regelmäßig einmal im Jahr eine fünftägige Bildungszeit. Im Laufe der Zeit hat sich eine Gruppe von Kolleg*innen und Bekannten gebildet, die gemeinsam ein Angebot auswählt. Meist sind es Seminare aus der politischen Bildung, alles Themen, mit denen die Immoor sonst wenig Berührung hat. Da geht es zum Beispiel um Wassergewinnung oder um Kaffee als Handelsgut. Die Sachgebietsleiterin arbeitet beim Magistrat der Stadt Bremerhaven, wo viele Mitarbeitende regelmäßig von ihrem Recht auf Bildungszeit Gebrauch machen. Besonders spannend seien die Exkursionen, der Blick hinter die Kulissen, berichtet Immoor: „Wir kommen an Orte, die wir privat nie besuchen würden, so waren wir zum Beispiel bei den Seenotrettern, auf dem Flughafen oder in der ehemaligen Kaffee-HAG-Fabrik“. Die Seminare sind für Immoor eine Bereicherung, man lernt Menschen kennen, die ein ähnliches Interesse haben. Oft entstehen daraus Netzwerke – das allein lohnt sich schon.

Bundesweites Konzept – mit regionalen Unterschieden

Bildungsurlaub bzw. Bildungszeit ist Ländersache, die genauen Regelungen werden in den jeweiligen Gesetzen verankert. Sachsen und Bayern sind derzeit die einzigen Bundesländer, in denen es keinen gesetzlichen Anspruch auf Bildungszeit oder -urlaub gibt.

Wer nutzt Bildungszeit?

Die Teilnehmer*innen von Bildungszeitkursen bei der wisoak kommen aus unterschiedlichen Branchen. Laut Nitschke sind es häufig Fach- und Schichtarbeitende aus Industriebetrieben sowie Beschäftigte aus der öffentlichen Verwaltung. „Das liegt vermutlich daran, dass in diesen Bereichen Betriebs- und Personalräte die Beschäftigten dabei unterstützen, ihr Recht auf Bildungszeit durchzusetzen“, erklärt er.

Unabhängig von der Berufsgruppe zeigt sich ein gemeinsames Muster: Bildungszeit wird häufig genutzt, um aus dem Alltag auszubrechen und neue Perspektiven zu gewinnen. Auffällig ist auch, dass die meisten Teilnehmenden das Bildungszeitangebot erst in der zweiten Lebenshälfte wahrnehmen. „Junge Menschen suchen sich eher Fortbildungsangebote aus, die sich unmittelbar auf die berufliche Weiterbildung auswirken“, so Nitschke.

Bildungszeit ist ein Gewinn für alle

Bildungszeit ist nicht nur eine persönliche Bereicherung. Sie bringt auch Vorteile für die Betriebe. Mitarbeiter*innen kehren oft motivierter und entspannter in den Berufsalltag zurück. Viele Beschäftigte berichten, dass sie durch die Bildungszeit nicht nur neue Kompetenzen erworben haben, sondern auch gestärkt und inspiriert wurden.

Für Mercedes Dargatz war die Bildungszeit eine Chance, endlich einmal etwas nur für sich zu tun – gemeinsam mit ganz unterschiedlichen Menschen: „Durch das Seminar habe ich neue Perspektiven und Lebenswelten kennen gelernt, habe Menschen aus der Region getroffen und spannende Projekte kennengelernt – das hat mich sehr bereichert und auch ermutigt!“.

Fazit: Ein Recht, das genutzt werden sollte

Die Bildungszeit ist eine wertvolle Möglichkeit, die eigenen Kompetenzen zu erweitern, neue Perspektiven zu gewinnen und sich mit gesellschaftlichen Themen auseinanderzusetzen. Mit der finanziellen Absicherung und der thematischen Freiheit bietet sie eine gute Chance, sich persönlich weiterzuentwickeln.

Nitschke appelliert, das Recht auf Bildungszeit noch stärker in Anspruch zu nehmen und bekannter zu machen: „Jeder und jede sollte die Chance nutzen, sich Zeit für Weiterbildung zu nehmen – denn schon wenige Tage können den Blick auf die Welt und den eigenen Berufsalltag nachhaltig verändern." Mehr noch: Bildungszeiten sind Orte, an denen Beschäftigte mit unterschiedlichen Ansichten zusammenkommen, diskutieren und voneinander lernen. Gerade in diesen Zeiten, so Nitschke, sei das ganz besonders wertvoll.

„Die Bildungszeit ist ein Geschenk“, findet auch Mercedes Dargatz: „Es wurde lange dafür gekämpft, dass wir so etwas haben – ich bin froh, dass ich diese Zeit für mich und meine weitere Entwicklung nutzen kann!"