Ein Nebeneffekt der Corona-Pandemie war ein Anstieg psychischer Erkrankungen, auch Suchtprobleme nahmen zu. Unkomplizierte Hilfe bietet ein neues Angebot im Raum Bremen-Oldenburg.
15. Juli 2021
Text: Anna Zacharias
Foto: Kay Michalak
Es passiert im Dezember 2020. Jutta Hofmann* hat schon viel hinter sich: Schaflose Nächte, Tränenausbrüche ohne erkennbaren Grund, Verlust sozialer Kontakte. „Meine Arbeit hat gelitten, ich war unkonzentriert, zu Hause blieb alles liegen, ich habe nur auf dem Sofa vor mich hingeheult“, erzählt sie am Telefon.
Wenn man mit der 57-Jährigen spricht, ist von einer psychischen Erkrankung erst mal nichts zu merken. Lebendig und humorvoll erzählt sie von sich, bis dann wie aus dem Nichts die Tränen kommen. Sich verstellen, so tun als wäre alles gut – das hat sie über Jahre trainiert: „Ich lache, aber die Wahrheit ist: Ich kriege mein Leben nicht auf die Reihe“. Viele Menschen, meint die Speditionskauffrau, schieben das Problem vor sich her, denken: „Es geht schon von alleine weg“ – aber meistens tut es das nicht. Im Dezember 2020 kann sie einfach nicht mehr. Es ist ihre Schwester, die die Warnzeichen erkennt und Jutta Hofmann vom „Rehakompass“ erzählt.
„Ich lache, aber die Wahrheit ist: Ich kriege mein Leben nicht auf die Reihe“.
Jutta Hofmann*, Teilnehmerin eines Rehakompass-Schnupperkurses
Mit dem neuen Angebot sollen Menschen herausfinden können, ob eine Reha-Maßnahme für sie geeignet ist, erklärt Dr. Natalie Schüz, wissenschaftliche Mitarbeiterin bei der Deutschen Rentenversicherung Oldenburg-Bremen (DRV). In einer zweitägigen „Schnupper-Reha“ unter Aufsicht von Fachärzten lernen die Teilnehmerinnen und Teilnehmer unter anderem Sportangebote und Gruppentherapie kennen.
Im März 2021 haben die Beratungen angefangen. Psychologische Beratungsstellen gibt es bereits, wozu also der Reha-Kompass? Immer mehr Menschen scheiden aufgrund psychischer Erkrankungen vorzeitig aus dem Job aus, erklärt Schüz: „Von allen Anträgen auf Erwerbsminderungsrente gehen inzwischen 46 Prozent auf psychische Belastungen zurück“. In den vergangenen zehn Jahren habe sich der Trend verstärkt.
Wenn das Fass überläuft
Die Symptome kommen oft schleichend, für manche braucht es ein bestimmtes Ereignis, das das Fass zum Überlaufen bringt. Bei Jutta Hofmann passiert das im Dezember 2020: Durch Umstrukturierungen in der Firma soll sie in eine andere Abteilung wechseln, in die sie nicht will. Auch die Corona-Pandemie verstärkt die unsichtbare Last auf ihren Schultern.
Als eine der ersten nimmt sie schließlich am Schnupperkurs im psychosomatischen Reha-Zentrum der Ameos in Bremen teil. Ein Psychologe stellt die Diagnose: mittlere bis schwere Depression. „Davon war ich selbst überrascht“, sagt die 57-Jährige, die sich vormachte, es sei doch gar nicht so schlimm. Sie könne diesen Schritt nur jedem empfehlen. Einen Termin beim Psychologen zu machen, auf den man vielleicht sehr lange warten muss, dann da allein hinzugehen – an diese Hürde hatte sich Jutta Hofmann nicht herangetraut. „Im Schnupperkurs waren wir zu fünft, da war man nicht allein auf dem Präsentierteller“, sagt sie. Besonders gut gefallen haben ihr neben den Gruppengesprächen auch die Entspannungstechniken, um mal zur Ruhe zu kommen.
Eine grüne Wiese mitten in der Stadt
Diese Ruhe findet man im Ameos Reha-Zentrum am Ende des Ganges im ersten Stock. Dort liegt hinter einer Tür die grüne Wiese. Jedenfalls sieht es auf den ersten Blick so aus. In Wirklichkeit ist die Wiese ein flauschiger grüner Teppich, auf dem großzügige Lounge-Sessel zur Entspannung einladen – sie wirken so gemütlich, als würde man darauf innerhalb von Minuten einschlafen. „Das passiert auch öfter mal“, sagt Wanda Weinert. Sie ist Leitende Oberärztin des Zentrums und betreut Menschen wie Jutta Hofmann in der Tagespflege.
In der Regel sind die Teilnehmenden hier fünf Wochen, manchmal werden es auch sieben. Wer sich anmeldet, bekommt an zwei Tagen das gesamte Programm in gestraffter Form präsentiert: Morgens gibt es einen kleinen Vortrag darüber, was die Reha bedeutet, es folgen Einzelgespräche und kleine Tests über das Befinden – vor denen niemand Angst haben müsse, versichert Weinert: „Es geht dabei um die Belastungen, denen jemand im Leben ausgesetzt ist“.
Manche wüssten zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht, ob das Angebot wirklich etwas für sie ist. Um das herauszufinden, seien die Gespräche mit den Psychologen hilfreich. „Von den ersten fünf Teilnehmern haben sich alle dafür entschieden, die Reha anzutreten“, sagt Weinert. Weiter geht es von einem Gruppentherapiegespräch über das Sportangebot wie Nordic Walking bis hin zur Ergotherapie.
Und für Entspannung zwischendurch kommt dann der Raum mit der grünen Wiese wieder ins Spiel, wo zum Beispiel Akkupunktur angeboten wird. Auch eine Küche, in der auch mal in Kleingruppen gekocht wird, gibt es – denn oft gingen die psychischen Probleme mit Essstörungen einher. In der Ergotherapie wird dann gebastelt und gemalt – ein Angebot, vor dem vor allem Männer manchmal zurückschreckten, ist Weinerts Erfahrung. „Keine Angst, wir veranstalten keine Ausstellung mit Ihren Werken“, sagt die Oberärztin dann.
Stress im Job häufige Ursache
In vielen Fällen seien es nicht etwa familiäre Probleme oder Schicksalsschläge, sondern die ganz alltägliche Arbeitsbelastung und Konflikte mit dem Chef, die die Menschen hierher führen. „Viele sind schon lange krankgeschrieben“, sagt Weinert. Auch bei Jutta Hofmann sei es in erster Linie der Stress im Job gewesen, der sie krank gemacht habe, immer mal wieder sei sie ausgefallen: „Seit über 30 Jahren bin ich im Unternehmen, und es gab gute und schlechte Phasen, aber über die Jahre hat mich der Job krank gemacht“, sagt sie. Als junger Mensch sei man stressresistenter, lerne schneller neue Programme: „Mein Anspruch ist auch, dass es klappt. Junge Kollegen nehmen vieles auf die leichte Schulter – ich kann das nicht“.
Im Juni 2021 begann der erste Schnupperkurs. „Im psychosomatischen Bereich waren wir positiv überrascht und stoßen fast schon an unsere Kapazitätsgrenzen“, sagt Natalie Schüz von der DRV über die Nachfrage. Im Suchtbereich dagegen gebe es größere Hürden Interessierte zu finden, zum einen aufgrund eines größeren Stigmas, zum anderen wegen fehlender persönlicher Kontakte im Lockdown, erklärt Schüz.
Diese Probleme kennt Psychologe und Reha-Lotse David Ittekkot gut, auch aus seiner Erfahrungen bei der anonymen Drogenberatung Delmenhorst. Es sei schwer, suchtkranke Menschen zu erreichen. Während sich gerade in der Corona-Pandemie bei vielen Betroffenen Abhängigkeiten verstärkt haben, wurde gleichzeitig der persönliche Kontakt erschwert. „Darum bauen wir ein Netzwerk auf mit Firmen, Vereinen oder dem Jobcenter“, erklärt Ittekkot. Auch die Arbeitnehmerkammer Bremen ist Netzwerkpartner, denn in den Beratungsgesprächen kommen immer wieder auch psychische Probleme ans Licht.
Spezielle Schulungen in Firmen und Organisationen zur Erkennung von Suchterkrankungen sollen dafür sensibilisieren, die Betroffenen schon zu erreichen, bevor die Erkrankung in einem fortgeschrittenen Stadium ist.
Hilfestellung für Kollegen
Aber die Kollegin darauf ansprechen, dass sie jeden Morgen nach Alkohol riecht? Dass dieser Schritt nicht leicht ist und Süchte mit einem gesellschaftlichen Tabu belegt sind, weiß Ittekkot nur zu gut: „Am besten spreche ich das Thema diskret in einer ruhigen Minute zu zweit an“. Wichtig sei, keine vorgefertigte Meinung zu haben und dem Gegenüber einfach ein Angebot zum Reden zu machen. „Du hast dich verändert“ oder „du bist gar nicht mehr fröhlich“ seien gute Sätze für einen Gesprächsanfang.
„Über Sucht sprechen Leute nicht. Das ist für uns ein Problem.“
David Ittekkot, Psychologe
Selbstverständlich können sich Betroffene auch eigenständig an die Reha-Lotsen wenden, wenn sie das Gefühl haben, ihren Konsum nicht mehr ganz unter Kontrolle zu haben. Doch ab wann sollte man sich Hilfe suchen? „Für eine Sucht ist es nicht nötig, täglich zu konsumieren, aber wenn ich täglich konsumiere, ist es fast immer eine Sucht“, erklärt der Psychologe. Die Probleme sind individuell, doch als grobe Faustregel gibt er Betroffenen mit auf den Weg: Wer sich ein halbes Jahr lang schlecht fühle, ohne dass es dafür körperliche Ursachen gibt, sollte sich Hilfe suchen. Zu viele warteten zu lange: „Über Sucht sprechen Leute nicht. Das ist für uns ein Problem. Oft kommt die Einsicht spät, wenn die Familie sagt: Jetzt musst du“, weiß Ittekkot.
Der herkömmliche Weg wäre dann der in eine Suchtberatungsstelle, es wird ein Sozialbericht erstellt, der mit einem Reha-Antrag an die Versicherung geht. Dann folgen für gewöhnlich Entzug und Entwöhnungsklinik. Für die Teilnahme am Reha-Kompass ist eine Entgiftung dagegen zunächst nicht notwendig, auch der Sozialbericht entfällt – allerdings müssen die Betroffenen nüchtern zum Schnupperkurs erscheinen. Dieser wie auch die anschließende Reha-Maßnahme sind kostenlos.
Wissenschaftliche Projektbegleitung
Um die Einrichtung im Zuge des Reha-Kompass kennenlernen zu können, müssen die Betroffenen nur Kontakt zu einem der Lotsen aufnehmen, so wie Jutta Hofmann irgendwann bei Psychologe David Ittekkot anrief. Neben dem psychosomatischen Rehazentrum Ameos sind noch das Rehacentrum Alt-Osterholz gemeinsam mit der ambulanten Suchthilfe Bremen und in Oldenburg die Klinik am Stadthafen sowie die Fachklinik Weser-Ems mit der Fachstelle Sucht der Stadt Oldenburg Anlaufstelle. Wissenschaftlich begleitet wird das Projekt von der Uni Oldenburg und der Hochschule Emden/Leer. Als Kooperationspartner beteiligt sind die DRV Bund, DRV Braunschweig-Hannover sowie die Jobcenter Bremen, Bremerhaven und Oldenburg. Sollte das Angebot Erfolg haben, könnte es zum Regelangebot werden.
Für Jutta Hofmann ist klar: Sie will jetzt am Ball bleiben. Die Reha kann dabei nur ein erster Schritt sein. Das Gespräch mit dem Arbeitgeber steht ihr noch bevor, denn der muss sie für fünf bis sieben Wochen freistellen. Was bei einer kaputten Hüfte, einem komplizierten Bruch beim Skiunfall oder einer Krebsdiagnose selbstverständlich erscheint, fällt auch heute noch schwer, wenn es bei der Erkrankung um psychische Probleme geht, merkt die Speditionskauffrau. Doch auch das wird sie schaffen, denn sie hat ihr Ziel jetzt klar vor Augen: „Ich will meine Lebensfreude zurück“.
*Name geändert
Kontakt zu den Rehakompass-Lotsen
Das Modellprojekt „Rehakompass“ in der Region Oldenburg-Bremen ist bundesweit einzigartig. Zunächst für einen Zeitraum von fünf Jahren sollen psychisch- und suchtkranke Menschen frühzeitig und niedrigschwellig erreicht werden. Das Projekt läuft noch bis Dezember 2024. Die Kosten für die Beratung sowie die Schnupper-Reha werden komplett vom Bundesprogramm „rehapro“ des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales übernommen. Voraussetzung für die Teilnahme ist, dass in den vergangenen vier Jahren keine vergleichbare Reha-Maßnahme in Anspruch genommen wurde. Interessierte erreichen die Rehakompass-Lotsen und Lotsinnen über die Telefonnummer 0421/3407-230 oder per E-Mail an rehakompass@drv-oldenburg-bremen.de
Weitere Informationen gibt es auch unter www.rehakompass-drv.de.