Als das erste Kind von Birthe K. und Moritz R. geboren wurde, war das Leben noch einfach: Die heute Anfang 30 Jahre alten Eltern studierten damals, ihr Junge ging zur Tagesmutter. Abwechselnd holten sie den Kleinen nachmittags ab, der jeweils andere konnte dann länger in der Uni bleiben. "Das haben wir gleich aufgeteilt, das war wunderbar, genauso, wie ich mir das immer vorgestellt hatte", sagt Birthe K. Das perfekte Leben bekam erste Risse, als beide anfingen, Vollzeit zu arbeiten. Dann kamen das zweite und das dritte Kind – die paradiesischen Zustände waren da längst vorbei.
Birthe K. und Moritz R. arbeiten inzwischen Teilzeit, um mehr bei den Kindern im Alter von sieben, drei und eins sein zu können. Beide schwanken zwischen Überforderung und "wir kriegen das noch hin". "Bei der Arbeit reiße ich mich mit dem blöden Gefühl los, etwas nicht zu Ende geschafft zu haben – und zu Hause höre ich dann: Wieso bist du so spät?", sagt der Vater. Denn nach einem anstrengenden Tag mit Arbeit, Kindern und Haushalt ist seine Frau froh, "endlich entlastet zu werden und meine Ruhe zu haben". Mehr Freizeit fände Moritz R. schön. "Am meisten vermisse ich, auch mal spontan etwas unternehmen zu können, die Zeit ist total verplant."
So wie Birthe K. und Moritz R. ergeht es vielen Familien. "Die Phase, in der sie sich befinden, wird als Rushhour des Lebens bezeichnet", sagt Thomas Schwarzer, Referent für kommunale Sozialpolitik der Arbeitnehmerkammer Bremen. "Es ist die Zeit, in der sich alles verdichtet." Der jüngste Bericht zur sozialen Lage, für den Ehepaar R. und weitere Mütter oder Väter im Frühjahr 2016 befragt wurden, nimmt die Lebenssituationen von Bremer Familien unter die Lupe. Dabei wird deutlich: Das klassische Modell mit einem männlichen Alleinverdiener ist zunehmend auf dem Rückzug. Immer mehr Frauen mit kleinen Kindern arbeiten. "Wir erleben gerade einen Umbruch der Alltagskultur von Familien", betont Thomas Schwarzer.
Innerhalb von zehn Jahren ist in der Stadt Bremen die Quote der erwerbstätigen Mütter in einer Ehe von rund 31 auf 43 Prozent im Jahr 2015 gestiegen. "Mütter und Väter haben realisiert, dass längere Auszeiten bei der Erwerbsarbeit ihre beruflichen Chancen, ihr Einkommen und ihre Altersvorsorge deutlich einschränken", betont Referent Schwarzer. "Außerdem haben wir die am besten ausgebildete Frauengeneration." Diese Frauen wollen beides – Familie und Beruf. Auch hätten sich die Lohnstrukturen so verändert, dass ein alleiniges Einkommen meist nicht reiche. Bei alleinerziehenden Müttern stellt sich die Frage noch einmal ganz anders. Sie weisen deshalb mit 58 Prozent im Jahr 2015 eine erheblich höhere Erwerbstätigenquote auf als Mütter, die mit dem Vater ihrer Kinder zusammenleben.
Der Sozialbericht geht der Frage nach, wer von den Partnern in welcher Altersphase der Kinder in Vollzeit, Teilzeit oder gar nicht erwerbstätig ist. Dabei zeigt sich ein neuer Trend bei den Müttern von unter dreijährigen Kindern: Fast 60 Prozent haben einen Job. "Sie arbeiten also in großer Zahl während einer besonders betreuungsintensiven Phase der Kinder", so Schwarzer. Die Hälfte dieser arbeitenden Mütter ist sogar vollzeitbeschäftigt. "Das hat sicherlich auch der seit 2013 geltende Rechtsanspruch auf einen Krippenplatz ermöglicht", sagt Thomas Schwarzer.
Inzwischen übernimmt auch ein Teil der Väter mehr Verantwortung für die Familie. Rund 13 Prozent der Väter mit Kindern zwischen null und fünf Jahren arbeiten in Teilzeit. "Das ist ein Wert, den wir vor zehn Jahren so nicht hatten", unterstreicht der Referent. Allerdings stoßen Männer mit Teilzeit-Wünschen noch oft auf Widerstand in den Unternehmen.
Das musste jedenfalls Stefan G. feststellen, Vater von zwei bei der Befragung drei und sieben Jahre alten Kindern. Seine Frau arbeitet 22 Stunden, er 24 Stunden pro Woche. Mit dem Teilzeitjob werde er von einigen Kollegen als "Dünnbrettbohrer" angesehen. "Da braucht man ein dickes Fell", sagt er. Er hatte eigentlich gedacht, dass für das Thema Eltern- und Teilzeit von Männern genügend in den Medien geworben worden sei. Er hoffte nicht nur auf Verständnis bei seinen Kollegen, sondern auch bei seinem Arbeitgeber. "Das ist nicht der Fall. Das war eine schmerzhafte Erfahrung." Bei einer anstehenden Beförderung habe er den Personalrat einschalten müssen, um nicht übergangen zu werden. "Ich bin hundertprozentig der Überzeugung, dass das eine Folge der Teilzeit war."
"Die jetzige Väter-Generation ist anders drauf"
Personalchef eines mittelständischen Unternehmens
Um genauer zu erfahren, welchen Stellenwert die Vereinbarkeit von Familie und Beruf in Bremer Betrieben hat, befragte der Verein Impulsgeber Zukunft für den Sozialbericht Personalchefs sowie Betriebs- und Personalräte. Dabei wurde klar: Der Umbruch der Alltagskultur von Familien ist auch in einem Teil der Firmen angekommen. Ein Personalchef eines mittelständischen Unternehmens sagte bei der Befragung: "Vor sechs bis sieben Jahren war es noch sehr selten, dass ein Vater in die Elternzeit geht. Wir haben heute auch viele Führungskräfte, die Elternzeit gemacht haben; auch männliche Kräfte, die sogar in Teilzeit gegangen sind. Die jetzige Väter-Generation ist anders drauf. Das wissen wir auch und finden es gut. Aber es ist eine Herausforderung."
Karriere steht bei den jungen Eltern nicht unbedingt an erster Stelle, hat der Betriebsrat eines Großunternehmens beobachtet: "Die jüngeren Leute fordern Angebote zur Vereinbarkeit. Sie sagen ganz klar, dass sie nicht in Vollzeit arbeiten oder nicht die Mega-Karriere machen wollen. (…) Die Jüngeren handeln ihre Bedingungen aus. Dadurch gerät das Unternehmen unter Druck."
Die Geschäftsführung eines anderen Großunternehmens bemerkt ebenfalls, dass sich die Zeiten geändert haben. Vor zehn Jahren hätten die Frauen mindestens zwei, drei Jahre Elternzeit genommen, manchmal habe eine Auszeit zwölf Jahre gedauert. Inzwischen sei das anders: "Es gibt jetzt viel mehr Mütter, die nur ein Jahr Elternzeit machen und dann in Teilzeit wieder zurückkommen, manche auch in Vollzeit."
Diese Entwicklung bestätigen auch bundesweite Studien. Das volkswirtschaftliche Arbeitsvolumen pro Mutter, das jahrzehntelang konstant war, ist nach Angaben der Konrad-Adenauer-Stiftung seit 2005 bereits um rund 15 Prozent gestiegen. "Die positiven Trends bei den Zwei-Verdiener-Familien dürfen aber nicht über die Kehrseite dieser Entwicklung hinwegtäuschen", betont Thomas Schwarzer. Wenn rund 60 Prozent der Mütter in Bremen mit Kindern unter drei Jahren erwerbstätig sind, heiße das auch: Die restlichen 40 Prozent sind es nicht.
Die Zahl bestätigen auch die Daten zum Elterngeld, die für den Sozialbericht ausgewertet wurden: Demnach beginnen 40 Prozent der Mütter eine (weitere) Kinderphase ohne eigenes Arbeitseinkommen. "Sie sind entweder von ihrem Partner abhängig oder von Sozialleistungen", so Thomas Schwarzer. "Wenn es dann zu einer Trennung kommen sollte, sind Familien- und Kinderarmut vorprogrammiert." Familien in Bremen sind viel stärker von Armut bedroht als in Hamburg oder Berlin – und Einelternfamilien noch einmal ganz besonders.
In eine solche Situation ist auch Kerstin T. geraten. Die alleinerziehende Mutter arbeitete eine Zeit lang 25 Stunden. Das wurde ihr mit zwei Kindern aber zu stressig. Sie arbeitet nun 18,5 Stunden und benötigt als Geringverdienerin aufstockende Leistungen, um die Existenz ihrer Familie sichern zu können. "Wenn meine Kinder jetzt demnächst beide bis 16 Uhr in der Schule sind, kann ich eventuell auch wieder mehr arbeiten." Das hänge aber auch von ihrem Arbeitgeber ab.
Ob Alleinerziehende mit Job oder Familien mit Zwei-Verdiener-Modell: "Das funktioniert nur mit einer passgenauen Betreuungs- und Bildungsinfrastruktur", sagt Thomas Schwarzer. Die aber sei in Bremen nicht so, wie sie sein sollte. "Es fehlen in allen Stadtteilen Krippen-, Kita-, Hort- und Ganztagsschulplätze – vor allem aber dort, wo viele Familien wohnen, die mit wenig Geld wirtschaften müssen." Eine aktuelle Bevölkerungsprognose ergab, dass die Stadt Bremen bis 2020 weitere 4.100 zusätzliche Plätze bereitstellen muss. Im laufenden Kindergartenjahr sollen erst einmal rund 820 neue Kita-Plätze geschaffen werden.
Vor allem für unter Dreijährige reicht das Angebot zurzeit nicht aus. Als Notmaßnahme sollen nun Container zur Betreuung aufgestellt werden. "Die Brisanz und Dringlichkeit des Themas ist in der Stadtpolitik Jahr für Jahr kleingeredet worden", kritisiert Thomas Schwarzer. "Jetzt fehlt es an Baugrundstücken, neuen Kitas, qualifizierten Erzieherinnen und auch an Ganztagsschulen und Hortplätzen."
Wie wichtig Hortplätze für die Familien sind, zeigt das Beispiel von Christin L., die vom Vater ihrer Kinder getrennt lebt. Sie arbeitet 30 Stunden, um das Haus finanzieren zu können, in dem sie mit ihren achtjährigen Zwillingen und ihrem Freund wohnt. "Für das kommende Schuljahr habe ich zunächst keine Hortplätze bekommen. Da habe ich überlegt, das Haus zu vermieten, Stunden im Job zu reduzieren, denn mit einer halben Stelle wäre das nicht zu finanzieren. Die Situation hat mich krank gemacht", wird sie im Sozialbericht zitiert. Als sie dann doch noch Hortplätze fand, sei das wie ein Sechser im Lotto gewesen.
Die Erwerbstätigenquote von verheirateten Müttern hat zwischen 2005 und 2015 um 40 Prozent zugenommen.
Ein Hortplatz ist allerdings ein "Gewinn", für den Eltern bezahlen müssen. Birthe K., die Mutter von drei Söhnen, wünschte sich das anders: "Wir haben keine Ganztagsschule im Einzugsgebiet, und ich empfinde es als schreiende Ungerechtigkeit, dass wir für den Hort 160 Euro bezahlen müssen, während die Ganztagsschule nichts kostet."
Für Birthe K. und Moritz R. sind die Kosten für die Betreuung ihrer drei Kinder eine "große monatliche finanzielle Belastung". Birthe K. würde sich wünschen, dass in Bremen zumindest das letzte Kindergartenjahr beitragsfrei ist – so wie in Niedersachsen. Angela S., Mutter von zwei Kindern und in Elternzeit, empfindet die Kita-Kosten ebenfalls als teuer. "Dafür ist das Kita-System zu wenig unterstützend, um den Alltag zu erleichtern." Sie hätte gern flexiblere Öffnungs- und Schließzeiten. Da ihre Kinder in zwei verschiedenen Einrichtungen mit unterschiedlichen Schließzeiten im Sommer gingen, müsse sie bis zu fünf Wochen betreuungsfreie Zeit überbrücken.
Thomas Schwarzer kritisiert, dass der Bremer Senat offenbar nicht genügend auf die steigende Erwerbsquote der Mütter vorbereitet war. "Es scheint, als habe die Politik nicht wirklich mit den Erfolgen der familienpolitischen Maßnahmen gerechnet." Nun würden die Behörden von den absehbaren Entwicklungen überrollt.
Das zeige sich nicht nur an den fehlenden Betreuungsplätzen, sondern auch in anderen Bereichen. So war im Sommer 2016 die Elterngeldstelle überlastet. Wegen der vielen Elterngeldanträge und der erforderlichen Beratungen zum neuen Elterngeld Plus kam es zu einem Rückstau von rund 1.000 Anträgen. "Manche Eltern mussten bis zu vier Monate auf die Bearbeitung ihrer Elterngeldanträge und damit auf ihre Lohnersatzleistungen warten."
Zudem wurde es lange verpasst, die Elternbeiträge für Krippen-, Kita- und Hortplätze sozial gerecht zu staffeln. Immer neue Beitragsordnungen führten zu Unmut. Für die Zukunft wünscht sich Thomas Schwarzer ein Signal der Stadt an die Familien; zum Beispiel die Betreuung von ein- bis zweijährigen Krippenkindern beitragsfrei anzubieten. "Denn in den Familien werden ganz am Anfang die Weichen für die Zukunft gestellt", so der Referent.
Alle Angaben zum Alter der Eltern und Kinder sowie zu weiteren Lebensumständen beziehen sich auf Mai/Juni 2016.
Text: Janet Binder
Fotos: Cosima Hanebeck
Alle Familien entlasten!
"Bereits im Jahr 2015 hat die Arbeitnehmerkammer die Entwicklung der Haushaltseinkommen im Land Bremen zwischen 2000 und 2012 untersucht. Die Befunde dieser Sonderauswertung sind gerade für die Bremer Familien dramatisch. Ihr Anteil an der relativ gesicherten Mittelschicht ging um 13 Prozent zurück. Und das, obwohl im betreffenden Zeitraum das Elterngeld eingeführt und das Kindergeld und der Kinderzuschlag erhöht wurden. Trotzdem die Familienpolitik des Bundes häufig als "mittelschichtslastig" bezeichnet wird, waren diese Geldleistungen in Summe nicht geeignet, Familien zu stabilisieren.
Deshalb muss eine moderne und gerechte Familienpolitik breiter angelegt werden. Sie muss eine gut aufeinander abgestimmte Sozial-, Bildungs-, Arbeitsmarkt- und Tarifpolitik sein. Nur dann kann die strukturelle Rücksichtslosigkeit gegenüber Familien auf den Arbeitsmärkten und in den Unternehmen verringert werden."
Mehr Vereinbarkeit wagen! Zur Situation der Familien im Land Bremen
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