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© 2025 Arbeitnehmerkammer Bremen

Eine Frau schreibt die Speisekarte in einem Restaurant auf eine Tafel. In einem zweiten Bild packt ein Mann Pakete auf ein Lieferband.

275 Pakete an einem Tag

70 bis 80. So viele Pakete könne er an einem Arbeitstag als Paketzusteller ausliefern, ohne in  Stress zu geraten, erzählt Ahmed Al-Mansouri (Name geändert). Am Anfang sei es gut gelaufen, er habe einen Stundenlohn von 13 Euro herausbekommen. Das sollte sich bald ändern.

Text: Anna Zacharias

Rund 200 Pakete musste er schließlich für einen bekannten Online-Shop verteilen, oft  in der Region um Bremen – über die Dörfer  von Walsrode bis Schneverdingen. Ob er das innerhalb seiner vereinbarten Arbeitszeit überhaupt schaffen konnte, habe seine  Vorgesetzten nicht interessiert. Er musste fahren, bis alles verteilt war. Stau oder Glatt-eis hätten keine Rolle gespielt, berichtet er. Hinzu kam, dass der Job nicht nur bei Regen und Schnee wenig angenehm gewesen sei: „Ich wurde zum Teil angefeindet, wenn ich  im Dunkeln auf die Grundstücke gegangen bin“, erzählt der Iraker. Außerdem berichtet  er von mangelhaften Fahrzeugen und schlechter Arbeitskleidung. Nicht selten musste Al-Mansouri an einem Tag 13 Stunden arbeiten, um alles zu schaffen.

Und der gebürtige Iraker schaffte es auch 20 Monate lang – bis zu einem Tag im Mai 2023. Wie immer bekam er am Abend vorher den Plan für den nächsten Tag: 275 Pakete – 203 Stopps, konnte er auf dem Display nachlesen. Er habe es zunächst noch versucht, dann aber kapituliert. „Da habe ich nach 102 Stopps um 19 Uhr meinen Chef angerufen und gesagt: Ich schaffe das nicht, jemand muss kommen und mir ein  paar Pakete abnehmen.“ Dies sei nicht  möglich, wurde ihm gesagt, also fuhr er mit den nicht ausgelieferten Paketen zurück zum Verteilzentrum. Am nächsten Tag bekam er seine Kündigung.

 

Al-Mansouri suchte sich Hilfe bei der Arbeitnehmerkammer Bremen und war anschließend vor Gericht erfolgreich. 

 

„Ich lebe seit acht Jahren in Deutschland und habe immer gearbeitet. Meine Familie sehe ich kaum, mein Sohn hat mir schon gesagt, dass ich aufhören muss zu arbeiten, weil er mich nicht mehr sieht“, sagt der 49-Jährige. Er hat drei Kinder, ein weiteres ist auf dem Weg. „Wie kann es sein, dass es diese Arbeitsbedingungen in Deutschland gibt?“, fragt er sich. „Man muss sich doch einfach vor das Verteilzentrum stellen und schauen, wie viele Pakete da in die Wagen geladen werden, die noch am selben Tag von einer Person ausgeliefert werden müssen.“ 

Al-Mansouri wurde von der Arbeitnehmerkammer beraten, klagte nicht bezahlte  Überstunden vor dem Arbeitsgericht ein und einigte sich schließlich mit seinem Arbeitgeber auf eine Lohnnachzahlung.

„Es gibt Angst, den Job zu verlieren“

Die Arbeitnehmerkammer Bremen führt jährlich rund 90.000 Rechtsberatungen durch. Kündigung, Überstunden und Unstimmigkeiten beim Gehalt sind oft Thema, wie Rechtsberaterin Josephine Klose berichtet.

Rechtsberaterin Josephine Klose steht vor der Tür der Arbeitnehmerkammer Bremen.

Was würden Sie sagen: Wo beginnt prekäre Beschäftigung?
Josephine Klose: Das fängt an bei unsicheren Zukunftsperspektiven – zum Beispiel durch Befristung und das berühmte Hangeln von Job  zu Job, Einkommen am Existenzminimum,  widrige Arbeitsbedingungen mit psychischem Druck oder fehlende Schutzmaßnahmen, oft gepaart mit schlechter Vergütung. Unsicherheit besteht auch dort, wo es aufgrund der Größe des Betriebes keinen Kündigungsschutz gibt. Bereits einer dieser Faktoren kann das Beschäftigungsverhältnis prekär werden lassen. Natürlich ist  nur ein Teil der Menschen, die zu uns kommen, auch von diesen Umständen betroffen. Den typischen Extremfall gibt es nicht. Beispielhaft sind hier vor allem die Jobs zu nennen, bei denen rechtswidrig unter Mindestlohn gezahlt wird oder wo Menschen bei nur kurzen Beschäftigungsverhältnissen einfach nicht zur Sozialversicherung angemeldet werden. Auch bei der Vergütung wird getrickst. In der Paketbranche zum Beispiel werden viele Überstunden geleistet, die nicht ordentlich dokumentiert werden.  Wenn ein Festgehalt vereinbart wurde, die Person  aber viel mehr gearbeitet hat, liegt das Gehalt letztlich unter dem Mindestlohn.

Was erleben die Betroffenen konkret im Arbeitsalltag? 
Das reicht von Anbrüllen und psychischem  Druck bis hin zu Drohungen und Machtdemonstrationen. Dienstpläne werden so gestaltet,  dass man zermürbt wird. Oder man würde  gern mehr arbeiten und bekommt auch mehr Stunden zugeteilt. Dann fordert man aber auch das Recht auf Pausen ein oder will geleistete Überstunden bezahlt bekommen – und plötzlich  sind es im nächsten Monat auf einmal wieder weniger zugeteilte Stunden.

Welche Menschen sind am meisten betroffen? 
Das sind überproportional Menschen ohne Ausbildung, mit Sprachschwierigkeiten und Menschen,  die es ohnehin nicht einfach haben. Was man auch nicht außer Acht lassen darf: Schlechte Arbeitsbedingungen an sich führen dazu, dass Menschen sich nicht weiterqualifizieren und Sprachbarrieren aufrechterhalten, weil sie gar nicht die mentalen, zeitlichen oder finanziellen Möglichkeiten haben, sich weiterzuentwickeln oder beispielsweise einen Sprachkurs zu buchen.

Von welchen Branchen im Land Bremen reden wir?
Da wäre zunächst die Zeitarbeit – vor allem dort,  wo kein Berufsabschluss notwendig ist. Dann die Reinigungsbranche, dort gibt es teilweise unsichere Arbeitsverhältnisse oder nicht vergütete Überstunden. Ähnlich ist es bei Lieferdiensten. Und dann gibt es noch die Branchen, bei denen  auf dem Papier eigentlich alles gut aussieht, die Realität aber anders ist. In der Gastronomie fordern  Arbeitgeber neben Überstundenbereitschaft häufig  eine ständige Verfügbarkeit. Der Verdienst kann oft die Arbeitsbelastung nicht aufwiegen. Auch in der Pflege sind die Beschäftigten durch die schwere Arbeit an sich, fehlende verlässliche Schichtplanung und ein unsicheres Arbeitsklima sowie Unterbesetzung stark belastet.

Was raten Sie den Menschen – können sie sich überhaupt gegen die herrschenden Arbeitsbedingungen wehren?
In rechtlicher Hinsicht hat man sehr gute Möglichkeiten. Die Arbeitsgesetze bieten einen guten Arbeitnehmendenschutz, den man auch gerichtlich geltend machen kann. Was dem Weg zum Gericht entgegensteht, ist aber häufig die Angst.

Angst wovor? 
Oftmals davor, den Job zu verlieren. Insbesondere dann, wenn man nicht unter demokratischen Bedingungen aufgewachsen ist, besteht auch eine gewisse Angst gegenüber Gerichten. In der Beratung gelingt es uns meist, den Ratsuchenden diese Angst zu nehmen und sie in die Lage zu  versetzen, ihre Rechte vor den Arbeitsgerichten geltend zu machen. Wir machen ihnen klar, dass es nicht nur „den einen Arbeitgeber“ gibt. Etwas Vergleichbares im Hinblick auf die Vergütung  findet man wieder – und dann zu besseren Arbeitsbedingungen. Und man muss auch betonen, dass viele Arbeitgeber an einem Arbeitsverhältnis interessiert sind, das fair verläuft. 

Wir haben derzeit einen Arbeitnehmermarkt, sagt man. Können Sie das aus Ihrer Beratung bestätigen? 
So pauschal nicht. In Berufen, die hohe Qualifikationen voraussetzen und die stark nachgefragt sind, ist das weitgehend so. Wenn es allerdings um Menschen ohne Berufsabschluss geht, ist der Markt schnelllebiger. Hier gibt es oft keine Möglichkeit zu verhandeln.

Wo steht Bürokratie den Menschen im Weg? 
Insbesondere in der Kommunikation mit Behörden wäre es wünschenswert, wenn die verantwortlichen Stellen die rechtlichen Möglichkeiten aus-schöpfen würden. So kann die Arbeitsagentur, aber auch die Krankenkasse Arbeitgeber anschreiben, um eine Arbeitsbescheinigung zu erhalten – notfalls  mit Androhung eines Bußgeldes. Diese ist Grund-lage für das Arbeitslosengeld und das Krankengeld. Arbeitnehmende werden hier häufig allein gelassen. Insbesondere Menschen mit Verständigungsschwierigkeiten jeglicher Art werden häufig  benachteiligt – das kann nicht sein.

Fragen: Anna Zacharias

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